Marburg (epd). Die Anti-Rassismus-Proteste in Deutschland sind nach Ansicht des Marburger Sozialpsychologen Ulrich Wagner zwar durch den gewaltsamen Tod des Afroamerikaner George Floyd ausgelöst worden, weisen aber über die Lage in den USA hinaus. "Die brutalen Bilder waren der unmittelbare Auslöser für die Demonstrationen", sagte Wagner dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Wenn die Leute hier auf die Straße gehen, geht es um die USA, aber auch um die kritische Frage, ob wir solche Strukturen in Deutschland und Europa auch haben."
Während der Pandemie sei beispielsweise über die Situation der Flüchtlinge in den Lagern und an den EU-Außengrenzen nicht mehr geredet worden: "Das kommt jetzt wieder hoch." Und auch in Deutschland nehme die Zahl der Menschen zu, die unter Rassismus leiden. "Sie erheben zunehmend ihre Stimme", sagte Wagner.
Dabei seien die Opfer von Rassismus nicht auf bestimmte ethnische Gruppen beschränkt. Es gebe mittlerweile auch andere Formen von Rassismus: etwa gegen alte Menschen, die in der Corona-Zeit in den Altenheimen weggesperrt werden. Wie immer müssten in Krisenzeiten vor allem diejenigen Menschen leiden, die bestimmten Gruppen angehören und in Altenheimen oder Asylunterkünften leben.
In der Debatte tauche immer wieder das Wort des "strukturellen Rassismus" auf. Gemeint seien damit gesellschaftliche Strukturen, in denen bestimmte Gruppen systematisch benachteiligt werden und andere den Vorteil daraus ziehen, erklärte der Wissenschaftler.
Ein gutes Beispiel sei das Schulsystem in Deutschland mit seinen Auswirkungen auf die Schullaufbahnen von Migranten, die deutlich schlechter verliefen als die deutscher Kinder: "Das Schulsystem ist für neu Hinzukommende nicht zu begreifen." In der Regel verhielten sich nicht die Lehrer aktiv rassistisch, sondern Rassismus sei eingebaut in die Struktur, sagte er. Es sei in der Debatte über Rassismus daher wichtig, den individuellen Rassismus einzelner von den strukturellen Elementen zu unterscheiden und gegen beide anzugehen.
"Wir erleben gerade eine Stimmung des Aufbruchs, der kritischen Auseinandersetzung mit den Strukturen in den westlichen Ländern", sagte Wagner. Diese Stimmung erlaube es, lang etablierte Strukturen zu ändern.
Eine solche Veränderung sei die Aufgabe von allen, aber auch von verantwortlichen Organisationen und einzelnen Meinungsführern. Wagner verwies ausdrücklich auf die Kirchen: Ihre Repräsentanten hätten Flüchtlingslager besucht oder deutlich ihre Stimme gegen Rassismus und Gewalt erhoben: "Das ist positiv, aber man kann bei dem Versuch, gute Dinge zu tun, auch immer noch mehr tun und die Stimme noch lauter erheben."