Göttingen (epd). Schüler könnten nach Ansicht des Göttinger Hirnforschers Gerald Hüther teilweise von den veränderten Lernbedingungen in der Corona-Krise profitieren. "Das Lernen zu Hause mit digitaler Hilfe kann sehr effektiv sein", sagte der 69-jährige Neurobiologe und Bildungsforscher dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das Kind sei der Gestalter seines eigenen Lernprozesses und nehme Inhalte schneller auf als in der Schule: "Die Schüler sitzen nicht mehr so lange rum, sondern haben in ein paar Stunden verstanden, was in der Schule eine Woche dauert", sagte Hüther.
Allerdings erlebe etwa nur ein Drittel der Schüler dieses selbstbestimmte Lernen als Erfolg, räumte er ein. "Die anderen zwei Drittel sitzen zu Hause und wissen nicht so richtig, was sie machen sollen. Sie arbeiten blöde Arbeitsblätter ab, die die Lehrer ihnen gegeben haben." Diese Kinder wüssten oft nicht, wie selbstständiges Arbeiten funktioniere. "Kein Wunder, dass sie nur darauf warten, dass die Schule weitergeht wie bisher", erklärte Hüther.
An eine nachhaltige Veränderung des Bildungssystems durch die Corona-Krise glaubt der Forscher nach eigenen Worten nicht. "Es wird so laufen wie vorher: Es wird Geld in das Bildungssystem gepumpt, es werden Leitungen gelegt, es werden Arbeitsmittel modernisiert." Das sei rausgeschmissenes Geld, kritisierte er: "Whiteboards statt Kreide und Tafel: Das braucht doch kein Mensch!"
In Schulen müsse es vor allem darum gehen, "dass kein einziges Kind seine angeborene Freude am Lernen" verliere, forderte Hüther. "Die Idee, dass wir mit den Dressurmethoden Belohnung und Bestrafung, mit guten und schlechten Zensuren und Zeugnissen, Kinder durch unser Schulsystem treiben, stammt aus dem vorigen Jahrhundert." Kinder müssten selbstständig denken und sich entfalten können.
Dies sei in den vergangenen Monaten bei einem Teil der Schüler geschehen, zeigte sich der Bildungsforscher überzeugt. "Gerade jetzt sehen wir, dass es auch Schüler gibt, die sich aus eigenem Antrieb ganz ernsthaft über das Internet mit Themen beschäftigen. Und wir erleben Eltern, die nicht nur gestresst sind, sondern die neuen Freiräume begrüßen und die Eigenmotivation ihrer Kinder unterstützen. Diese Beispiele machen mir Hoffnung." Diejenigen, die hingegen die Zustände vor der Corona-Pandemie herbeisehnten, könnten keine Veränderung herbeiführen.
Als Vision für neue Lernformen nannte Hüther "Kommunen oder Stadtteile, die sich selbst als Bildungscampus verstehen". Dort hätten Schüler die Möglichkeit, in die Berufswelten der Erwachsenen einzutauchen: "Das, was früher Schule war, wäre dann nur noch der Ort, an den sie gehen, um dieses aus eigener Anschauung und Erfahrung erworbene Wissen miteinander zu teilen. "