Bonn (epd). In Deutschland könnten sich bereits deutlich mehr Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben, als es das Robert Koch-Institut (RKI) anhand der offiziell registrierten Fälle angibt. Wie die Uni Bonn am Montag aufgrund der nun abgeschlossenen Auswertung der sogenannten Heinsberg-Studie mitteilte, dürften sich deutschlandweit etwa 1,8 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben. Damit sei die Zahl der Hochrechnung zufolge rund zehnmal so hoch wie die vom Robert Koch-Institut offiziell registrierten Fälle, erklärte Studienleiter Hendrik Streeck. Das Robert Koch-Institut gab mit Stand Montag, 8 Uhr, die Fallzahl für Deutschland mit 163.175 an.
Für die Heinsberg-Studie wurden in der Zeit vom 30. März bis 6. April 919 Studienteilnehmer aus 405 Haushalten in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg sechs Wochen nach dem Ausbruch der Infektion auf einer Karnevalssitzung befragt und getestet. Im Zentrum der Studie steht die sogenannte Sterblichkeitsrate der Infektion, die den Anteil der Todesfälle unter den Infizierten angibt. In der Gemeinde Gangelt liege die Infektionssterblichkeit (infection fatality rate (IFR)) für den Sars-CoV-2-Ausbruch bei 0,37 Prozent, erläuterte Studienleiter Streeck.
Von den 919 Studienteilnehmern waren 15,5 Prozent mit dem Sars-CoV-2-Virus infiziert. Diese Rate habe fünfmal höher als die offiziell gemeldete Rate der Infizierten mit 3,1 Prozent gelegen, erklärten die Forscher. In Kombination mit der Gesamtbevölkerungszahl der Ortschaft (knapp 13.000) und sieben mit Corona assoziierten Todesfällen sei ein Hochrechnungsmodell entwickelt worden.
Mit der Infektionssterblichkeitsrate lasse sich anhand der Zahl der Toten auch für andere Orte mit anderen Infektionsraten abschätzen, wie viele Menschen dort insgesamt infiziert sind, hieß es. Lege man für die Hochrechnung die Zahl von derzeit fast 6.700 mit Corona assoziierten Todesfällen in Deutschland zugrunde, so ergebe sich eine geschätzte Gesamtzahl von rund 1,8 Millionen Infizierten.
Gunther Hartmann, Co-Autor der Heinsberg-Studie und Leiter des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie an der Uni Bonn, verwies auf die Zuverlässigkeit der verwendeten Testverfahren. Durch die Kombination der beiden Verfahren PCR und Elisa hätten sowohl akute als auch abgelaufene Infektionen erfasst werden können. Messtechnische Fehlerraten des Elisa-Tests würden bei einem hohen Prozentsatz an Infizierten wie in Gangelt in den Hintergrund treten, blieben aber bei aktuell geplanten deutschlandweiten Studien mit niedriger geschätzten Infektionsraten jedoch ein messtechnischer Unsicherheitsfaktor.
Bei der Symptombeschreibung habe die Heinsberg-Studie gezeigt, dass offenbar jede fünfte Infektion ohne wahrnehmbare Krankheitssymptome verläuft, hieß es. Insgesamt 22 Prozent von allen Infizierten zeigten gar keine Symptome. "Jeder vermeintlich Gesunde, der uns begegnet, kann unwissentlich das Virus tragen: Das müssen wir uns bewusstmachen und uns auch so verhalten", erklärte Hartmann. Der Kreis Heinsberg gilt als Corona-Schwerpunkt und war rund zwei Wochen früher mit dem Ausbruch des Virus konfrontiert als der Rest der Republik. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass eine Karnevalssitzung in Gangelt Hauptquelle der Ansteckungen war.
In der Corona-Pandemie gelten aktuell andere Regeln für eine Veröffentlichung in renommierten Wissenschaftszeitschriften. Journale verlangen zunächst das Hochladen der Arbeiten auf einen sogenannten Preprint-Server. Dadurch haben die globale Wissenschaft und Gesundheitsbehörden bereits Zugriff auf Forschungsergebnisse. Die sonst übliche Überprüfung durch Experten muss die Heinsberg-Studie noch durchlaufen.
Der Bonner Virologe Streeck gehört zum "Expertenrat Corona", der gemeinsam mit der nordrhein-westfälischen Landesregierung Strategien für die Zeit nach der Krise erarbeiten soll. Bereits Anfang April waren gemeinsam mit Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) vorläufige Ergebnisse aus der Studie vorgestellt worden. Im Anschluss war Kritik an der Kommunikation der wissenschaftlichen Ergebnisse in Verbindung mit politischen Handlungsempfehlungen laut geworden. Kritik hatte sich auch gegen den begleitenden Social-Media-Auftritt durch eine PR-Agentur gerichtet.