Hamburg (epd). Der Soziologe Hartmut Rosa hält es für sehr wahrscheinlich, dass die Corona-Krise und ihr Folgen auch noch in ein paar Jahrhunderten als gewaltiger und überraschender Einschnitt wahrgenommen werden. "Nach zwei Jahrhunderten nahezu ungebrochener Beschleunigung und Dynamisierung bremst die Welt plötzlich ab", heißt es in einem Essay des in Jena lehrenden Wissenschaftlers für die in Hamburg erscheinende "Zeit"-Beilage "Christ & Welt". Es habe den Anschein, als "hätte jemand gigantische Bremsen an die Räder der Produktion, des Transports, aber auch des soziokulturellen Lebens angelegt." In der gegenwärtigen Situation liege die Chance für einen grundlegenden gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, "wie sie sich im historischen Verlauf nicht allzu häufig ergibt".
Seit 1800 habe sich unter anderem die weltweite Produktion von Gütern und Dienstleistungen, die Anzahl der Fahrzeuge aller Art und der Menschen und Güter, die damit in Bewegung sind, ebenso wie der Ausstoß an Schadstoffen ununterbrochen und nahezu exponentiell vermehrt, zum Teil um das Hundert- und Tausendfache, gibt der 54-Jährige zu denken. Nun aber ereigne sich nie Dagewesenes: "Die Welt hält an." Dies geschehe nicht aufgrund eines ökonomischen Zusammenbruchs oder einer militärischen Konfrontation oder einer Naturkatastrophe. Die Verlangsamung sei Folge politischen Handelns durch überwiegend demokratisch gewählte Regierungen.
Dies sei deshalb so bemerkenswert, "weil dieselben politischen Akteure seit nunmehr 50 Jahren zwar in vielerlei Hinsicht willens, aber vollkommen unfähig sind, gegen das beschriebene gigantische Räderwerk der Beschleunigung beziehungsweise gegen seine ökologisch schädlichen Nebenfolgen auch nur das Geringste auszurichten", so Rosa. Die Räder und Motoren der Beschleunigung und des Wachstums schienen immun gegen jede Art von Wachstums- und Beschleunigungskritik, und die auf die Klimakrise reagierenden Beschlüsse und Erklärungen prallten ab "an der stahlharten Steigerungslogik moderner Gesellschaft und kapitalistischer Wirtschaft".
Kein Treibhauseffekt, keine Hitzewelle oder Dürre und auch keine "Fridays-for-Future"-Bewegung habe jemals irgendeinen nennenswerten Verlangsamungseffekt erzielt, so Rosa. Dies sei jetzt anders. Er rief dazu auf, die Krise als Chance für einen grundlegenden positiven Wandel zu nutzen: "Nichts kann uns als handelnde soziale Akteure daran hindern, jene Erfahrung von Handlungsmacht etwa auch auf den Umgang mit der Klimakrise oder mit den schreiend ungleichen globalen Vermögensverhältnissen zu übertragen - und daraus eine Antwort auf die Aggressionskrisen der Moderne insgesamt zu entwickeln."