Hannover (epd). Kurz vor dem 1. Mai hat der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Michael Vassiliadis, angemahnt, mögliche negative Auswirkungen bestehender Corona-Schutzmaßnahmen auf Mitbestimmung und Demokratie im Blick zu behalten. "In der gegenwärtigen Krise finden demokratische Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse, die üblicherweise physischer Gremien bedürfen, überwiegend auf digitalem Weg statt. An diesen Zustand sollten wir uns nicht gewöhnen", sagte der Gewerkschaftschef am Montag in Hannover dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Vassiliadis äußerte die Befürchtung, dass sich mit längerem Fortdauern der Krise Stimmen mehren könnten, "die die derzeitigen Notstandsmaßnahmen als eine Chance preisen, Demokratie effizienter zu organisieren". Der IG BCE-Vorsitzende, der zugleich Präsident des europäischen Industriegewerkschaftsbunds "IndustriAll" ist, betonte, "dass wirkliche Demokratie in Betrieben und Parlamenten vom Verhandeln von Angesicht zu Angesicht geprägt sein muss und auf der Straße von Versammlungsfreiheit und Demonstrationsrecht".
Bedauern, aber auch Verständnis äußerte Vassiliadis darüber, dass sämtliche Kundgebungen zum 1. Mai, dem "Tag der Arbeit", abgesagt werden mussten. Ein Verzicht auf öffentliche Versammlungen sei aus Gründen des Gesundheitsschutzes derzeit alternativlos. Dennoch schmerze ihn, "dass die Plätze in ganz Deutschland am 1. Mai erstmals seit der Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Jahr 1949 leer sein werden". Für die Arbeiterbewegung sei dies ähnlich betrüblich, wie für Christen ein Verzicht auf Karfreitags- und Ostergottesdienste.
Zugleich verwies Vassiliadis auf digitale Aktionen, die der DGB und die Einzelgewerkschaften zum 1. Mai organisieren. Unter anderem wird es vormittags einen zentralen Livestream mit Künstlern, Aktionen, Interviews und Solidaritätsbotschaften aus ganz Deutschland geben: "Ob die Menschen, die sonst auf die Straße gegangen wären, sich dann ebenso begeistert vor ihrem Computer einfinden, werden wir sehen. "
Ungeachtet aller Einschränkungen wollten die Gewerkschaften den 1. Mai dennoch nutzen, um "zentrale Anliegen vorzubringen". Beispielhaft verwies Vassiliadis auf die durch die Klimaschutz-Debatte angestoßene Transformation der Industrie in Richtung Nachhaltigkeit und grüner Technologien. Die Politik müsse bereits jetzt über die Krise hinausdenken, Zukunftstechnologien fördern und die Modernisierung grundlegender Infrastrukturen wie Schienennetz und Energieversorgung vorantreiben - und zwar in ganz Europa.