Corona: Wissenschaftlerin kritisiert Bevormundung von Senioren

Corona: Wissenschaftlerin kritisiert Bevormundung von Senioren

Bremen (epd). Die Bremer Professorin für Gesundheitswissenschaften, Annelie Keil (81), hat den Umgang mit Senioren in der Corona-Krise kritisiert. Viele alte und kranke Menschen erlebten derzeit einen "dramatischen Autonomieeinbruch", der zu großen Verunsicherungen führe, sagte sie dem Bremer "Weser-Kurier" (Samstag). Gut gemeinte Zuwendung oder Hilfe müsse auf Augenhöhe geleistet werden. "Es darf nicht sein, dass Sorge und Fürsorge in Kontrolle, Respektlosigkeit und Diskriminierung umschlagen."

Die Antwort auf die gesundheitliche Bedrohung durch das Virus könne nicht sein, Menschen ab 65 Jahren unterschiedslos die Eigenverantwortung abzunehmen, sagte Keil. Für manche sei der selbstständige Einkauf oder der Besuch eines Angehörigen die Höhepunkte des Tages, ein Weg aus der sozialen Isolation. "Das kann man niemandem einfach wegnehmen." Denn dies könne ebenfalls gesundheitliche Folgen haben. "Todesangst ist kein Heilmittel, so viel steht fest, und die ständige Drohung damit auf allen medialen Kanälen unangemessen."

In der bisherigen Debatte werde die Kompetenz der Menschen, die sich als Risikogruppen freiwillig komplett isolieren sollen, weitgehend außer Acht gelassen, sagte Keil. Gerade ältere Menschen wüssten, wie man Krisen, Krankheiten und Katastrophen bewältigt, sie durchsteht und wie man mit weniger durchs Leben kommt. "Das gilt vor allem für die Kriegskindergeneration." Sie wüssten, dass notfalls Zeitungspapier als Toilettenpapier dienen könne und wie man sich beim Kochen behilft, wenn bestimmte Zutaten fehlen.

Die Professorin sagte, sie fürchte sich vor einer Gesundheitsüberwachung, die allein die körperliche Unversehrtheit zum höchsten Gebot erkläre. "Ich fürchte nicht den Tod, der steht im höheren Alter immer an unserer Seite, aber ich möchte nicht auf der Intensivstation in einem sogenannten Corona-Bett sterben, wenn dort zurzeit die palliative Betreuung auf der Strecke bleibt." Sie wünsche sich, "dass wir auch in Corona-Zeiten die Liebe zum gefährdeten Leben nicht verlieren".