Historiker Nolte: Corona darf nicht zur "Obsession" werden

Historiker Nolte: Corona darf nicht zur "Obsession" werden
08.04.2020
epd
epd-Gespräch: Corinna Buschow

Berlin (epd). Der Historiker Paul Nolte warnt davor, die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie über den bislang geäußerten Zeitplan hinaus zu verlängern. An der Oberfläche der Gesellschaft sei "bewundernswerte Disziplin", darunter das Gewebe der Gesellschaft aber "schon jetzt zum Zerreißen gespannt", sagte Nolte dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Ich sehe nicht, dass eine Verlängerung über den 19. April hinaus gut aushaltbar wäre", ergänzte er.

Nolte sagte, schwierig sei die Situation für Familien mit Mehrfachbelastung und alle, die soziale, physische Kontakte stark vermissten. Eine Verlängerung bis in den Sommer sei für ihn daher nicht vorstellbar. "Dann geht unsere Gesellschaft kaputt", sagte Nolte. Der Professor für Zeitgeschichte forderte die Politik auf, zu Ostern eine Perspektive zu geben, "wie wir aus diesem Zustand wieder herauskommen - quasi eine säkulare Auferstehungsbotschaft".

Nolte sagte, man müsse aufpassen, die schmerzhaften Maßnahmen nicht romantisch zu verklären, "als eine Art Paradies der superempathischen Gesellschaft". Derzeit erlebe man auch Formen sozialer Kontrolle, etwa durch Nachbarn, die schauen, mit wem man Kontakt habe. "Solidarität mit den Schwächsten und für die alte Nachbarin einkaufen - wunderbar. Aber wir sollten auch mal laut sagen dürfen: Das ist doch schrecklich, was wir gerade erleben. Das ist eine Scheißsituation!", sagte Nolte.

Die Gesellschaft lasse sich gerade darauf ein, dem Kurs der Regierung zu folgen, sagte Nolte und erklärte das unter anderem mit einem Schockzustand durch die Pandemie. "Corona darf uns aber nicht zur Obsession werden, mit einem totalisierenden Charakter", warnte Nolte, der auch Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin ist.

Es sei richtig, loyal zu sein, weil es nicht die Maßnahmen einer Diktatur seien. Er wundere sich aber schon, dass es nicht mehr Regungen von spontanem Protest gebe. "Mir ist klar, wie heikel das ist, aber: Momente des zivilen Ungehorsams dürfen auch in einer solchen Situation nicht fehlen", sagte Nolte. Man müsse dafür sorgen, dass solche Maßnahmen strikt befristet bleiben, Alternativen diskussionsfähig bleiben und kritische Fragen nach den Kosten gestellt werden, erklärte er.