Berlin (epd). Ende 1970 begannen ein paar junge Leute vom West-Berliner Stadtteil Gesundbrunnen aus einen Fluchttunnel Richtung Osten zu graben. In einem Keller eines Wohnhauses direkt an der Bernauer Straße gruben sie sich zunächst neun Meter in die Tiefe, um dann unterhalb der scharf bewachten Grenzanlagen den Stollen Richtung Ost-Berlin voranzutreiben. Das Ziel war das grenznahe Haus Brunnenstraße 143 im Ostteil. Von dort aus sollten fluchtwillige DDR-Bürger durch den Tunnel in den Westen geschleust werden. Seit Donnerstag können Reste des Stollens besichtigt werden.
Sie schlugen damals einen Bogen, um nicht mit der U-Bahn-Linie 8 zu kollidieren, wie Ulrich Pfeifer berichtet. Der 84-jährige Bauingenieur war für die Vermessung des Stollens zuständig. Nach neun Wochen fehlten nur noch wenige Meter bis zum Ziel. Trotz größter Sicherheitsmaßnahmen der Fluchthelfer, während der Grabungsarbeiten durfte keiner der Beteiligten die Baustelle verlassen, wurde der Tunnel an die Stasi verraten. "Nicht aus unseren Reihen, sondern wahrscheinlich von Freunden oder Bekannten von Fluchtwilligen aus dem Osten", sagt Pfeifer.
Im Februar 1971 suchten plötzlich DDR-Grenztruppen mit Ultraschallgeräten das Gelände ab. Dann begannen sie mit einem Bagger im Todesstreifen den Tunnel aufzugraben und zu verfüllen. "Damit war klar, dass unsere Arbeit mal wieder umsonst war", erinnert sich Pfeifer.
Ein neuer Besuchertunnel unter dem früheren Mauerstreifen führt nun zu Resten des originalen Fluchttunnels. Damit ist erstmals einer der zahlreichen Stollen, die Fluchthelfer zwischen Gesundbrunnen und Mitte in den 60er und 70er Jahren unter den Grenzanlagen zwischen West- und Ost-Berlin gruben, für die Öffentlichkeit zugänglich. Mit der Freilegung des Fluchttunnels und dem Bau des rund 30 Meter langen Besuchertunnels hatte der Verein Berliner Unterwelten vor zwei Jahren begonnen. Die Arbeiten seien überwiegend von Mitgliedern des Vereins in Hunderten ehrenamtlichen Stunden von Hand gemacht worden, sagte Vorstand Dietmar Arnold am Donnerstag in Berlin.
Eröffnet wurde die neue Attraktion unter dem Gelände der Gedenkstätte Berliner Mauer von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD). Er sprach von einem "besonderen Moment an einem besonderen Ort". "Hier spiegelt sich wider, dass es diesen ständigen Kampf um Freiheit gab", sagte Müller. Man müsse "schon positiv verrückt sein", um solche authentischen Orte zu schaffen, lobte er den Verein.
Der Einstieg in den neuen Besuchertunnel befindet sich in etwa 7,5 Meter Tiefe in einem historischen Gewölbe der früheren Oswald-Berliner-Brauerei in der Brunnenstraße, das von den Vereinsmitgliedern ebenfalls freigelegt wurde. Das Gebiet zwischen den Stadtteilen Gesundbrunnen in West- und Mitte in Ost-Berlin war den Angaben zufolge nach dem Mauerbau ein Brennpunkt von Tunnelfluchten von Ost nach West. Auf einer Länge von 350 Metern wurden die Grenzanlagen sieben Mal untertunnelt. Die meisten wurden zumeist durch Verrat von der Stasi entdeckt und zugeschüttet.