Stuttgart (epd). Die Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad hat mehr politische Unterstützung für ihr jesidisches Volk gefordert. Die Jesiden müssten in der Lage sein, sich selbst schützen zu können und ihre Heimat wiederaufzubauen, sagte sie bei einer Gedenkveranstaltung in Stuttgart zum fünften Jahrestag des Genozids an den Jesiden im Nordirak. Der Genozid seit 2014, bei dem auch Murads Mutter und sechs ihrer Brüder starben, sei lange im Voraus von der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) geplant worden. Dementsprechend lange brauche es, alles wieder aufzubauen, sagte Murad.
Die 26-Jährige erhielt 2018 gemeinsam mit dem kongolesischen Gynäkologen Denis Mukwege den Friedensnobelpreis. Sie engagiert sich als UN-Sonderbotschafterin für die Opfer von Menschenhandel und sexueller Versklavung und war selbst 2014 im Irak vom IS verschleppt worden.
Der Vorsitzende des Zentralrates der Jesiden in Deutschland, Irfan Ortac, plädierte ebenfalls für den Aufbau der Heimat der Jesiden im Nordirak. "Wer den Jesiden helfen möchte, muss ihre Heimat wiederaufbauen", sagte er. Trotz massiver wirtschaftlicher und militärischer Unterstützung der internationalen Gemeinschaft hätten es weder die irakische noch die kurdische Regierung geschafft, dass die Jesiden in ihre Heimat in den Nordirak zurückkehren können, kritisierte er. Deshalb sei es notwendig, dass eine internationale Konferenz mit der Beteiligung der Mitglieder des Weltsicherheitsrates stattfinde.
"Es gibt nur einen Weg, den fortlaufenden Genozid zu verhindern", sagte Ortac. Dies sei der Wideraufbau der Heimat, die Rückkehr der Flüchtlinge aus den Lagern und die Teilnahme der Jesiden am politischen Leben im Irak sowie die Versöhnung zwischen Völkern und Religionen in der Region.
Für sein Engagement für Jesiden erhielt das Land Baden-Württemberg den Ehrenpreis des Zentralrats. Laudatorin Peyman Ali vom Zentralrat sagte, leider sei das Leben von mehr als 400.000 Jesiden weiterhin in Gefahr. Allerdings sei sie froh, dass Baden-Württemberg das Leben von 1.100 Jesidinnen gesichert habe. Das Bundesland sei für sie, den Zentralrat und alle Jesiden "ein Held".
Baden-Württemberg hatte 2014 auf Initiative von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ein "Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak" beschlossen. Zwischen 2015 und 2016 nahm die Landesregierung etwa 1.000 Frauen und Kinder, die Opfer des IS geworden waren, in Baden-Württemberg auf. 100 weitere, von denen der größte Teil Jesiden waren, fanden in Niedersachsen und Schleswig-Holstein Schutz. Außerdem existiert eine Entwicklungspartnerschaft Baden-Württembergs mit der Autonomen Region Kurdistan-Irak, um die Inlandsflüchtlinge zu unterstützen.
Der kommissarische SPD-Bundesvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel sagte bei der Gedenkveranstaltung, vor fünf Jahren sei der Bundesregierung klar, dass sie militärisch helfen müsse, den IS zu besiegen. Heute gehe es darum, die jesidischen Dörfer wiederaufzubauen und neue Schulen zu eröffnen, damit das jesidische Volk eine neue Perspektive erhält. Eine neue Diskussion auf Bundesebene über ein Sonderkontingent sei richtig, dürfe aber nicht dazu führen, dass die Aufbauaufgaben im Irak vergessen werden, betonte er.
Das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden, die Sindschar-Region im Nordirak, war am 3. August 2014 von Kämpfern der Terrorgruppe "Islamischer Staat" überfallen worden, die dort ein Blutbad anrichteten. Mehrere tausend Zivilisten wurden ermordet, Tausende Frauen und Mädchen wurden verschleppt und versklavt. Noch immer fehlt von vielen jegliche Spur. Vor dem IS-Überfall lebten etwa 600.000 Jesiden in der Sindschar-Region. Heute sind es etwa zwischen 40.000 bis 80.000. Rund 300.000 Jesiden leben derzeit noch in Flüchtlingslagern.