Was ging in seinen Eltern vor, als sie ihn zurücklassen mussten? Wussten sie, was sie in Auschwitz erwartet? Konnten sie beim Transport zusammenbleiben? Für den Historiker Saul Friedländer, der mit seiner Holocaustforschung der Welt die Verbrechen der Nazis vor Augen führte, bleiben persönliche Fragen an die Zeit des Grauens wohl für immer unbeantwortet. Bewegend schilderte Friedländer in der Gedenkstunde des Bundestags die Geschichte seiner Familie. Während er in Frankreich im Versteck den Holocaust überlebte, wurden seine Eltern in Auschwitz ermordet. Eindringlich warnte er sein Publikum vor neuem Hass auf Minderheiten und Nationalismus.
1942 floh die Familie des 1932 geborenen Friedländer nach Frankreich. Als schon bald klarwurde, dass es auch dort für Juden nicht mehr sicher ist, entschieden die Eltern, einen Versuch zur Flucht in die Schweiz zu unternehmen. Für den noch nicht zehnjährigen Sohn fanden sie das zu riskant und versteckten ihn, letztlich in einem katholischen Knabenseminar. Angekommen in der Schweiz wurden die Eltern zurückgeschickt und schließlich nach Auschwitz deportiert. Eltern mit Kindern hätten zu diesem Zeitpunkt bleiben dürfen, berichtete Friedländer: "In diesen Tagen waren rationale Entscheidungen für Juden sinnlos."
Appell zur Standhaftigkeit
Friedländer redete vor dem Parlament auf deutsch, entschuldigte sich zu Beginn für die "Unsicherheit" in der Sprache, mit der er zwar aufwuchs, sie später aber vergaß. 1948 ging Friedländer nach Israel. Das Land habe Heimat und Zugehörigkeit bedeutet, sagte er: "Für Juden wie mich und für Juden überall, die einen eigenen Staat brauchten und ersehnten, war dessen Erschaffung lebensnotwendig."Umso eindringlicher warnte Friedländer im Bundestag davor, das Existenzrecht Israels heute infrage zu stellen, vor Antisemitismus und neuen zerstörerischen Kräften. "Antisemitismus ist nur eine der Geißeln, von denen jetzt eine Nation nach der anderen schleichend befallen wird", sagte er: "Der Fremdenhass, die Verlockung autoritärer Herrschaftspraktiken und insbesondere ein sich immer weiter verschärfender Nationalismus sind überall auf der Welt in besorgniserregender Weise auf dem Vormarsch."
Deutschland bezeichnete er als starkes Bollwerk gegen all die Gefahren und forderte dazu auf, standfest zu bleiben für Toleranz, Menschlichkeit und Freiheit, "kurzum für die wahre Demokratie". Mit stehenden Ovationen würdigte das Publikum, darunter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die Abgeordneten und viele Besucher auf den Tribünen, seine 25-minütige Rede.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte zuvor dazu aufgefordert, die Opfer des Nationalsozialismus nicht zu vergessen. Die im Grundgesetz festgeschriebene Verpflichtung zur Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen bezeichnete er als wesentliche Lehre aus den Verbrechen der Nazis. Es sei "die Antwort auf die Erfahrung, dass die Würde des Menschen millionenfach verletzt, geschändet wurde", sagte er. Der Bundestag gedenkt traditionell zum Holocaust-Gedenktag der Millionen Opfer des Nazi-Regimes. Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee das Vernichtungslager Auschwitz. Allein dort wurden mehr als eine Million Menschen getötet.