"Die Argumente für diese Losung waren dermaßen einleuchtend, dass wir uns relativ kurzfristig dafür entscheiden konnten", sagt Wolfgang Baur, Vorsitzender der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB). Die ÖAB wählt die Jahreslosungen aus verschiedenen Vorschlägen aus und stimmt darüber ab. "Bei dieser Jahreslosung lief das sehr glatt", erinnert sich Baur. Die Arbeitsgruppen der ÖAB hatten zahlreiche Kriege in der Welt vor Augen, als sie den Bibelvers "Suche Frieden und jage ihm nach" (Psalm 34,15b) wählten. "Wir sehen, dass unsere Welt im Augenblick am Auseinanderbrechen ist, und Frieden war natürlich immer schon eines der höchsten Güter, die wir auch als Christen vertreten", bekräftigt Baur. Auch die Autorin Renate Karnstein, die für den Verlag am Birnbach regelmäßig Auslegungen zu den Jahreslosungen schreibt, hält das Thema "Frieden" für hochaktuell: "Der Verdacht legt sich nahe, dass so viel von ihm geredet wird, weil wir ihn so sehr vermissen und es an allen Ecken und Enden brennt. Viele sehnen sich danach und scheitern doch daran, ihn zu leben."
Offenbar war das schon zu Zeiten des biblischen Psalmdichters so, als er den Vers formulierte. "Suche Frieden und jage ihm nach" (Psalm 34, Vers 15b) ist eine wörtliche Übersetzung aus dem Hebräischen. Der Vers steht in der Lutherbibel und in der Einheitsübersetzung im gleichen Wortlaut und wiederholt sich außerdem im Neuen Testament (1. Petrus 3, Vers 11). "Es ist eine richtig symmetrische Losung", freut sich Wolfgang Baur. Auch der Versaufbau an sich ist symmetrisch: Das Substantiv "Frieden" wird eingerahmt von zwei Verben. Das erste, "suchen, trachten, verlangen, fordern", wird vom zweiten verstärkt: Die Bedeutung "hinter jemandem her sein, ihm eilig folgen, nachsetzen, verfolgen, in die Flucht jagen" klingt allerdings zunächst eher unfriedlich. "Es ist ein Wort, das in der Bibel nicht häufig vorkommt", erklärt Wolfgang Baur. "Es steht natürlich im militärischen Kontext, also zum Beispiel: Die Ägypter jagten den Israeliten nach. Dann gibt’s aber auch das Jagen im ethischen oder persönlich-anspruchsvollen Sinn, wenn Paulus sagt: 'Ich habe das Ziel noch nicht erreicht, aber ich jage ihm nach'." Gemeint ist: sich geduldig für etwas einsetzen, das schwer zu erreichen ist; mit aller Kraft und Ausdauer danach streben.
In diesem Fall: streben nach dem Frieden, hebräisch "Schalom". Dieser Begriff bedeutet weit mehr als die Abwesenheit von Krieg oder Streit. Er umfasst laut Bibelwissenschaften.de Bedeutungen wie "ungefährdetes Wohlergehen, Glück, Ruhe und Sicherheit", "lebensfördernde Geordnetheit der Welt" oder auch "Zufriedenheit". Renate Karnstein drückt es do aus: "'Schalom' meint eine tiefe Sehnsucht nach einer heilen, unversehrten Welt, in der keine Gefahr mehr droht. 'Schalom' ist die unverbrüchliche Hoffnung auf ein gerechtes und alle Feindschaft überwindendes Miteinander der ganzen Schöpfung."
Der Begriff steht damit sowohl für die gesellschaftliche Großwetterlage als auch für den Frieden im persönlichen Umfeld. "Den Schalom kann man eigentlich nicht teilen", sagt Wolfgang Baur und verweist auf Psalm 120, Vers 7. "Da hat die neue Einheitsübersetzung die Formulierung gewählt: 'Ich bin Frieden', früher hieß es 'Ich verhalte mich friedlich'. Das ist etwas anderes. Wenn ich Schalom bin, dann heißt das: Überall da, wo ich mich einsetze, wo ich mich aufhalte, verbreite ich auch den Schalom, im persönlichen Bereich wie im politischen. Jeder Mensch, der Frieden ausstrahlt, verändert automatisch auch die Gesellschaft."
Diesen Gedanken führt der Schweizer Theologe und Schriftsteller Kurt Marti weiter aus und stellt einen dabei Zusammenhang her zwischen Gottesnähe und dem Verlust des Jerusalemer Tempels. "Die Psalmen, allesamt auf den Tempel Jahwes bezogen, stellen heutige Leser immer neu vor die Frage: Wo ist nun der hier verkündete Gott, wo erscheint, wo antwortet, redet, heilt er?" Die Erfahrung der Gottesnähe sei "mit dem Verschwinden des Tempels gleichsam ortlos" und damit eine universale "Verheißung für alle" geworden, so Marti. "Entscheidender als Kult und Gottesbegegnung im Tempel ist der Wandel mit Jahwe, das alltägliche Handeln nach seiner Weisung." Kurt Marti formuliert seine theologische Schlussfolgerung als Frage: "Ist somit der Schalom der Gesellschaft der wahre Tempel, aus lebendigen Menschen und menschlichen Beziehungen errichtet?" (Kurt Marti: Die Psalmen Davids. Annäherungen, Stuttgart 1991, S. 151)
Für Renate Karnstein beginnt das Streben nach Schalom mit einer Bestandsaufnahme im persönlichen Umfeld: "Wo sind Beziehungen zerbrochen? (…) An welcher Stelle sollte ich von meiner festgefahrenen Sicht der Dinge Abstand nehmen und vielleicht nicht länger auf mein Recht pochen und alte Wunden lecken? Was lähmt und hindert mich daran, in Frieden zu leben?" Solche Überlegungen können massiv schmerzen, dann aber lohnende Versöhnungsprozesse auslösen, die vielleicht über das persönliche Umfeld hinausreichen.
Ausgangspunkt des Nachdenkens ist für den katholischen Theologen Adolf Exeler das Gotteslob – so, wie es dem Anfang von Psalm 34 entspricht: "Ich will den HERRN loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein.". Gotteslob als tägliche Übung (trotz vielleicht unfriedlicher Lebensumstände) hat Auswirkungen im Leben, meint Exeler: Es wirkt erfrischend und befreiend, es erfüllt mit Freude und Dankbarkeit. Diese Lebenshaltung diene nicht nur der "privaten Seelenhygiene", sondern auch anderen Menschen, gerade in Bezug auf den "Schalom": "Ich komme nach und nach 'in Ordnung’, indem ich Gott suche, und davon gehen starke Impulse aus, auch solche, die das Verhältnis zu den Mitmenschen und zur Welt überhaupt betreffen: 'Suche Frieden und jage ihm nach.'" (Adolf Exeler: Leben in der Nähe Gottes. Erfahrungen mit Psalm 34, in: Gottfried Bitter/Norbert Mette (Hg.): Leben mit Psalmen, München 1983, S. 171)
"Ich wünsche mir, dass Frieden nicht nur als Erwartung an die Politiker herangetragen wird", sagt Wolfgang Baur abschließend. "Frieden beginnt an allen Stellen, wo Menschen überhaupt interagieren, im persönlichen Bereich, im wirtschaftlichen, im ökologischen, im politischen, überall." Der ÖAB-Vorsitzende hofft, "dass viele Menschen sich von der Jahreslosung angesprochen fühlen und sagen: 'Ich kann selber Frieden ausstrahlen und ihm nachjagen.'"