Sie sind seit 2016 Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Dort sitzen Juristen, Sozialpädagogen, Erziehungswissenschaftler und andere Experten. Ständige Gäste der Kommission sind auch Betroffenenvertreter. Wieso aber gibt es keine Theologen, die doch besonders gut zuhören können sollten?
Christine Bergmann: Ich kann auf Anhieb keinen Theologen nennen, der sich mit dem Thema sexueller Kindesmissbrauch ausgiebig befasst hat. Es ist bei der Besetzung der Kommission danach ausgewählt worden, wer Kompetenzen in dem Bereich mitbringt oder sogar schon einmal aufgearbeitet hat. Wem traut man das zu und wem trauen das auch die Betroffenen zu.
Schon 2010 wurden Sie zur Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Auftrag der Bundesregierung berufen. Was sind seitdem Ihre Erfahrungswerte?
Bergmann: Ich hatte damals sofort eine telefonische Anlaufstelle eingerichtet. Ich war völlig überrascht. Damals meldeten sich bereits 20.000 Betroffene und mehr als 3000 Briefe gingen ein. Viele hatten Leid und Unrecht im kirchlichen Bereich erfahren. Und schon damals war klar: Ein Drittel der Fälle aus dem kirchlichen Umfeld kam aus der evangelischen Kirche. Also nicht wenig. Bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, der ich heute angehöre, gingen seit 2016 gut 1350 Anmeldungen für vertrauliche Anhörungen ein. Davon wurden knapp 750 durchgeführt. Außerdem liegen der Kommission rund 280 schriftliche Berichte vor. Bei ihr haben sich 79 Personen aus dem Kontext Kirchen gemeldet und wieder gibt es ein ähnliches Verhältnis zwischen katholischen und evangelischen Fällen, zwei Drittel zu einem Drittel.
Wenn die Deutsche Bischofskonferenz in ihrer aktuellen Studie zwischen 1946 und 2014 auf rund 3700 Fälle kommt, müsste es im evangelischen Bereich dann nicht mindestens schätzungsweise über 1000 Missbrauchsfälle geben?
Bergmann: Die Zahl kann ich natürlich so nicht bestätigen, weil dazu noch niemand seriös geforscht und untersucht hat. Die EKD selbst nennt jetzt schon 479 Fälle, die bekannt geworden sind. 31 Betroffene aus dem evangelischen Bereich haben sich bei der Kommission gemeldet. Daraus wird klar, wir wissen noch viel zu wenig.
Der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber hat sich jetzt in einem aktuellen Zeitungsinterview geäußert: Die evangelische Kirche sei in einer grundsätzlich anderen Situation. Für sexuellen Missbrauch gebe es bei der Evangelischen nicht dieselben strukturellen Voraussetzungen wie in der katholischen Kirche. Stichworte: hierarchische Struktur, Autoritätsverhältnisse, Pflichtzölibat, Sexualmoral. Das Problem habe auch international im evangelischen Bereich nicht die gleiche Dramatik. Selbstkritik und das Leiden an der eigenen Kirche gehörten zum Wesen des Protestantismus. Deshalb habe auch die Aufarbeitung aller Arten von Skandal im Protestantismus Tradition.
Bergmann: Also das kann ich ganz und gar nicht teilen. Verweise auf das nicht vorhandene Zölibat und die bessere oder nicht vorhandene Hierarchie oder dem nicht so starken Klerikalismus hören wir vor allem dort, wo man das Problem nicht in der ganzen Tragweite sehen will. Man kann sich nicht hinter dem Zölibat verstecken und dahinter, dass man nicht so klerikal sei. Hierarchien gibt es in der evangelischen Kirche auch. Fragen Sie einmal die Betroffenen vielleicht auch im ländlichen Bereich, wie schwer es ist, sich gegen die Autorität des Pfarrers durchzusetzen.
Aber in der katholischen Kirche hat das Priesteramt Sakramentscharakter. Bei den Evangelischen gilt dagegen das Priestertum aller Gläubigen!
Bergmann: Aus der Fallanalyse der Kommission zum Missbrauch in der evangelischen und katholischen Kirche geht zum Beispiel hervor, dass eine spezifische Gelegenheitsstruktur in der katholischen Kirche der Ministranten-Dienst ist. Im Vergleich dazu sind es in der evangelischen Kirche die Konfirmanden- und Jugendarbeit: Zum Beispiel nutzt ein Pfarrer die Gefühle von jungen Mädchen aus, die ihn anhimmeln oder seine Hilfe brauchen. Diese Abhängigkeiten können über Jahre fortbestehen.
Gibt es also egal ob katholisch oder evangelisch ein ähnliches Täter-Opfer-Muster?
Bergmann: Ja leider. Die jungen Menschen werden nicht gehört. Sie sind dem sehr verehrten Pfarrer oder dem Jugendleiter ausgeliefert. Und wenn ihnen wirklich klar wird, was passiert und sie versuchen Hilfe zu bekommen, haben sie keine Chance, weil ihnen keiner glaubt. Beispiel: Das Kind wird nach einem Missbrauch im Pfarrhaus in ein Internat geschickt. Dort macht es einen Selbstmordversuch und offenbart sich einem Betreuer. Und der ist nun ein alter Studienkollege des Täters – und es passiert daraufhin nichts. Da ist absoluter Täterschutz. Und wenn der Täter dann in eine andere Gemeinde versetzt wird und wieder Jugendarbeit macht, dann ist das Begünstigung. Es gibt einen ganzen Kreis von Mitwissern, die mit verantwortlich sind.
Nun verspricht die evangelische Kirche vollumfängliche Aufklärung. Auf der anstehenden EKD-Synode in Würzburg sollen entsprechende Beschlüsse gefasst werden. Trauen Sie da als evangelische Christin Ihrer eigenen Kirche?
Bergmann: Ich erwarte und verlange von meiner Kirche, dass sie sich nun einer unabhängigen Aufarbeitung stellt und die Archive öffnet. Und wir müssen einmal klar sagen, dass die Kirche auch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft hat, weil die Kirche Aufgaben in ihrem Auftrag übernimmt. Sie macht Jugendarbeit und sie ist Träger von Kitas, Schulen und Heimen. Da hat die Gesellschaft ein berechtigtes Interesse, dass Kinder und Jugendliche in diesen Einrichtungen sicher sind.
Aufarbeitung braucht Zeit. Was aber sollte jetzt schon geschehen?
Bergmann: Die evangelische Kirche sollte schon jetzt ihre Haltung gegenüber Missbrauch in den eigenen Institutionen ändern und auch im Umgang mit Betroffenen. Es ist eine Offenheit nötig, hinsehen, hinhören und glauben zu wollen. Nur mit einer solchen Haltung kann man ernsthaft und glaubwürdig aufarbeiten. Die Kommission hat heute eine Stellungnahme zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der evangelischen Kirche veröffentlicht. Darin sprechen wir gegenüber der EKD Empfehlungen aus. Diese umfassen neben der Haltung gegenüber Betroffenen auch die unabhängige Aufarbeitung, Entschädigung und Umgang mit Tätern und Täterinnen, die Unterstützung betroffener Gemeinden und Einrichtungen sowie eine Kooperation mit dem Staat. Und bereits jetzt sollte auch der nötige Druck von den Gemeinden und den Kirchenmitgliedern kommen: Jetzt will ich mal wissen, was ist denn in meiner Landeskirche gewesen? Wo ist denn die Aufarbeitung?