Der Freiburger Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi plädierte eindringlich für einen Aufklärungsprozess. "Wir Muslime leben immer noch mit dem Geist des 11. und 13. Jahrhunderts", sagte er am Freitag in der Berliner Sophienkirche. Ourghi plädierte für eine Unterscheidung zwischen einem ethischen zeitlosen Koran und dem politischen Koran, der die Zeit des 7. Jahrhunderts widerspiegle.
"Es geht darum, den Islam gemäß der heutigen Zeit aus sich heraus zu entwickeln", sagte Ourghi. Ziel sei eine Emanzipation der Gläubigen, die den Muslimen den Gebrauch der Vernunft erlaube, statt einer bloßen "Nachahmung" religiösen Lebens, wie sie vielfach in den Moscheen auch in Deutschland gelehrt werde.
Der Generalsekretär der Türkisch-Islamischen Union (Ditib), Bekir Alboga, widersprach der Darstellung eines starren, in der Vergangenheit verharrenden Islam. Die muslimischen Verbände in Deutschland hätten sich schon vor Jahren eindeutig auf das Grundgesetz verpflichtet.
Bei Ditib wirkten Frauen mit und ohne Kopftuch mit, niemand werde gefragt, ob er fünf Mal am Tag bete. "Es gibt unter uns, in unseren Reihen keine Diskussion, ob man ein islamischen Recht in Deutschland einführen soll", bekräftigte er. Alboga wandte sich gegen eine Kritik seines Glaubens, die der Islamfeindlichkeit Vorschub leiste. Dagegen warf Ourghi der Ditib vor, Frauen sehr wohl zum Kopftuch zu zwingen und in den Moscheen eine "Vorradikalisierung" der jungen Muslime zuzulassen.
Auch Nushin Atmaca beklagte eine Stagnation des Islam. "Der Islam braucht einen Weckruf", sagte die Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes. Häufig gebe es die Vorstellung, dass es nur den einen Islam geben könne. Notwendig sei eine innermuslimische Öffnung, des Denkens und der Lebensweise. Dazu gehöre Toleranz, die gegenseitige Akzeptanz zwischen konservativen und liberalen Muslime.
"Ein Missionierungseifer, das einzig Wahre erkannt zu haben, ist schädlich", sagte Atmaca. "Jeder Mensch steht in der Verantwortung vor Gott" und sollte die Möglichkeit haben, über seinen Glauben zu entscheiden. Nicht die Strafe sollte im Mittelpunkt stehen, sondern der Mensch und das Ziel, ein gutes Leben zu führen.
Die Veranstaltung gehörte zur Reihe "Streitzeit" der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Die von der türkischen Religionsbehörde finanzierte Ditib steht wegen des Vorwurfs der Bespitzelung von Gülen-Anhängern in Deutschland heftig in der Kritik. Der türkische Präsident Recep Tayyib Erdogan macht die Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch im Sommer 2016 verantwortlich.
Der Generalbundesanwalt ermittelt wegen der Spionage-Vorwürfe gegen Imame derzeit gegen 19 Beschuldigte, von denen sich noch acht in Deutschland befinden sollen. Zu Ditib gehören nach eigenen Angaben mehr als 900 Ortsgemeinden, die mehr als 70 Prozent der in Deutschland lebenden rund vier Millionen Muslime vertreten.