Die Mehrheit der Muslime in Deutschland habe den Koran nicht gelesen, sagt Mouhanad Khorchide, der zu Gast an der Frankfurter Goethe-Universität ist. Khorchide leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster und spricht in Frankfurt zu Vertretern verschiedener evangelischer Religionspädagogischer Institute (ALPIKA) der evangelischen Kirche, zu Religions-Lehrern und einer handvoll Studenten, die sich in einem Seminarraum versammelt haben. Es geht um die Situation des Islamischen Religionsunterrichts (kurz: IRU) in Deutschland, der mittlerweile in acht Bundesländern als ordentliches Unterrichtsfach und Pendant zum evangelischen und katholischen Religionsunterricht gelehrt wird, vor allem an Grundschulen und vereinzelt auch an weiterführenden Schulen (beispielsweise in NRW). Doch von einem flächendeckenden Angebot kann noch lange nicht die Rede sein. Dazu gibt es in den Bundesländern noch viel zu viele Hürden.
Doch Khorchide geht es in seinem Vortrag erst einmal nicht um die vielen Schwierigkeiten, wie die Frage nach islamischen Ansprechpartnern für den Staat oder die aktuelle Diskussion um die Verlässlichkeit des deutsch-türkischen Moscheeverbands Ditib. In einer wissenschaftlichen Arbeit hat Khorchide herausgefunden, dass viele muslimische Jugendliche von sich selbst sagen: "Der Islam spielt eine zentrale Rolle in meinem Leben." Und gleichzeitig: "Ich habe den Koran nicht gelesen." Wenn er sie dann fragte: "Was macht dich zum Muslim?", hätten die Jugendlichen geantwortet: "Als Muslim fühle ich mich stark."
Junge Muslime mit entkernter Identität
Dass es einen konfessionellen Religionsunterricht in Deutschland gibt, hält Khorchide für sehr wichtig - und auch, dass er ausgebaut werden muss; besonders für die vielen jungen Muslime der zweiten und dritten Generation, die der Unterricht erreichen könnte: "Sie sind in Deutschland sozialisiert. Hier ist ihr Zuhause", dennoch stehe ihr "Muslim-Sein" innerhalb der Mehrheitsgesellschaft im Vordergrund - und das grenze die Jugendlichen von der Mehrheitsgesellschaft aus. So werde die Erfahrung "Muslim-Sein = Ausgrenzung" gleichzeitig identitätsstiftend und die eigene Religion dadurch exklusivistisch.
Vor allem seit dem 11. September 2001 werde Muslimen zunehmend vermittelt, dass sie nicht "hierher" gehörten. Die gegenseitige Abgrenzung führe bei vielen Jugendlichen zu einer "entkernten, einer ausgehöhlten, einer Schalen-Identität", wie Khorchide es bezeichnet. Denn auch in den Herkunftsländern ihrer Eltern seien sie häufig Fremde, wie zum Beispiel in der Türkei, wo deutsch-türkische Jugendliche gerne auch Deutschländer genannt würden.
"Und hier beginnt die Rolle des Islamischen Religionsunterrichts", sagt Khorchide. Er wünscht sich, dass der staatlich anerkannte islamische Religionsunterricht den jungen Menschen einen Zugang zu ethischen Dimensionen der Religion eröffnet, denn nur so schütze man Religionen vor Instrumentalisierung. Und eine fehlende theologische Kompetenz verhindere den ehrlichen Dialog. Etwas, das wohl für Christen und für Muslime gilt.
Für eine gesunde Beziehung zu Gott
"In Münster an der Universität versuchen wir unsere Studenten anzuleiten, ihre Religion zu reflektieren", sagt Khorchide. Klassiker sind die Fragen: "Steht im Koran, dass Muslime beschnitten sein müssen? Steht im Koran, dass Frauen Kopftuch tragen müssen? Und wenn ja, aus welchen Gründen?", fragt Khorchide. Solche Fragen müssten die Studenten auf einer kognitiv-theologischen Ebene zu beantworten lernen und nicht auf einer persönlichen und kulturell geprägten. "Wenn wir mit den Bildern brechen können, dass Gott zornig und restriktiv ist, dann ermöglichen wir den jungen Menschen eine gesunde Beziehung zu Gott", ist Khorchide überzeugt.
Dass Khorchides Wunsch nach einem reflektierten Umgang mit Religion Ziel eines staatlich geförderten islamischen Religionsunterrichts sein muss, steht für die politischen Entscheidungsträger außer Frage. Auch steht außer Frage, dass der islamische Religionsunterricht in deutscher Sprache durch in Deutschland ausgebildete staatliche Lehrkräfte und nach staatlichen Curricula erteilt werden soll. Doch darüber, wie diese Ziele erreicht werden sollen, sind sich die politisch Verantwortlichen und Experten in den Bundesländern nicht einig. So kommt es, dass die Umsetzung in beinahe jedem Bundesland anders ist.
In Hessen sind der Ditib Landesverband Hessen und die Ahmadiyya Muslim Jamaat als Religionsgemeinschaften im Sinne des Artikels 7 Absatz 3 des Grundgesetzes seit dem Jahr 2013 anerkannt. Nurgül Altuntas hat als Referentin des Hessischen Kultusministeriums die Einführung des islamischen bekenntnisorientierten Religionsunterrichts in Hessen im Schuljahr 2013/14 mitbegleitet. Sie ist stolz darauf, weiß aber auch, dass die Anerkennung einzelner muslimischer Verbände ihre politischen Tücken in der Außensicht hat. "Wir haben 80 islamische Religionslehrerinnen und -lehrer ausgebildet, von denen nicht einer Mitglied eines islamischen Verbandes ist", sagt sie und bekräftigt damit die Unabhängigkeit der einzelnen Lehrkräfte. Zudem hätten alle Lehrkräfte auch einen deutschen Pass. Nurgül Altuntas ist überzeugt, dass ein von allen anerkannter und staatlich unterstützter islamischer Religionsunterricht jungen Muslimen auch das Gefühl der Ausgrenzung nehmen kann: "Etwas das zu ihnen gehört, wird auch in Deutschland gewertschätzt", sagt sie.
In Niedersachsen und Rheinland-Pfalz wurden jüngst Verhandlungen zu einem Staatsvertrag mit den jeweiligen Landesverbänden Ditibs ausgesetzt, in denen es auch um eine Mitsprache der beiden Verbände für islamischen Religionsunterricht geht. Aufgrund der Entwicklungen in der Türkei stehen die Länder dem Verband nun vorsichtiger gegenüber. Khorchide ist sowieso der Meinung, dass einzelne Verbände nicht die richtigen Partner sind, um über Curricula für den islamischen Religionsunterricht zu entscheiden. Und, dass alle Verbände gemeinsam mit einer Stimme sprechen sollen, hält er für eine uneinlösbare Forderung: "Man macht in Deutschland einen fatalen strukturellen Fehler, wenn man erwartet, dass der Islam genauso organisiert ist wie die christliche Kirche", sagt er.
Wozu der Religionsunterricht doch eigentlich beitragen sollte, sagt Khorchide, sei doch, dass wir fähig seien über religiöse Grenzen hinweg zu einem großen gesellschaftlichen "Wir" zu kommen.