Brüssel (epd). Der Dalai Lama hat bei einem Europa-Besuch für nicht-religiöse moralische Grundsätze geworben. Er selbst sei an einem Projekt beteiligt, das im kommenden Jahr ein Curriculum über moralische Prinzipien vorstellen wolle, "ohne irgendeine Religion zu berühren", kündigte der Friedensnobelpreisträger vor dem Europarat in Straßburg an. Sich selbst wiederholt durch Lachen und heitere Bemerkungen unterbrechend, rief der buddhistische Mönch zu einem neuen Bildungssystem auf, das sich stärker inneren Werten widme.
Dalai Lama: Mitgefühl wichtig
"Die gegenwärtig existierende moderne Bildung ist sehr auf materielle Werte hin orientiert", sagte das geistliche Oberhaupt des tibetischen Volkes. Wenn dieses Bildungssystem weitergeführt werde, "kann auch dieses 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Gewalt und Not sein". Es müsse stattdessen ein "ganzheitliches Bildungssystem" etabliert werden, in dem innere Werte eine größere Rolle spielten, verlangte der 81-Jährige.
Die inneren Werte könnten dabei nicht oder jedenfalls nicht überall auf die Religion gegründet werden, machte der Dalai Lama klar. Denn dann würden sie nicht die rund eine Milliarde Nichtgläubigen auf der Welt ansprechen. "Also brauchen wir Bildung über moralische Prinzipien, moralische Ethik, die nicht auf Religion gegründet ist, sondern auf wissenschaftliche Erkenntnisse und gemeinsame Erfahrung und den gemeinen Menschenverstand."
Immer wieder sprach der Friedensnobelpreisträger von der Wichtigkeit des "Mitgefühls" ("compassion"). Er selbst werde eine "glücklichere Menschheit" wohl nicht mehr erleben, sagte er mit Verweis auf sein Alter. Wenn das neue Bildungssystem aber jetzt etabliert werde, könnten die Führungspersönlichkeiten in 20 oder 30 Jahren "mitfühlender" agieren, sagte der Dalai Lama im Europarat.
"Nicht den Namen der Religion hineinmengen"
Der Europarat, der eine von der Europäischen Union unabhängige paneuropäische Organisation ist, hatte den Dalai Lama zu seinem Sitz nach Straßburg eingeladen. Europarats-Generalsekretär Thorbjorn Jagland stellte den Friedensnobelpreisträger als Persönlichkeit vor, die sich ebenso wie der Europarat für die Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Geschlechtergleichheit und gegen die Todesstrafe einsetze.
Der Dalai Lama ging auch auf das Verhältnis der Religionen zur Politik ein. Politische Differenzen wie im Falle des Nordirland-Konflikts müssten von Politikern allein gelöst werden, sagte er mit Blick auf den Streit zwischen Katholiken und Protestanten. "Wir auf der Ebene des Volkes sollten nicht den Namen der Religion hineinmengen." Alle wahren Gläubigen hätten "eine Botschaft der Liebe", sagte er außerdem und nannte unter anderen das Christentum, das Judentum, den Islam und den Buddhismus.
Der 14. Dalai Lama wurde 1935 als Lhamo Thöndup in eine arme Bauernfamilie geboren. Im Alter von zwei Jahren entdeckten ihn Mönche in einem kleinen Dorf in Tibet als die Wiedergeburt des 13. Dalai Lama, des Oberhaupts der Tibeter. Im Oktober 1950 marschierten die Truppen der Volksrepublik China in Tibet ein. Der Dalai Lama floh im März 1959 aus dem Potala-Palast in Lhasa nach Indien, chinesische Truppen schlugen einen Volksaufstand in Tibet blutig nieder. Bis heute ist das indische Dharamsala, eine Bergstadt im Himalaya, Sitz der tibetischen Exilregierung und Residenz des Dalai Lama.