Güterloh/Essen (epd) Der deutsche Arbeitsmarkt gehört einem EU-Ländervergleich zufolge zu den flexibelsten in Europa. Eine höhere Dynamik könne lediglich den skandinavischen Ländern sowie Estland und Lettland attestiert werden, heißt es in der am Donnerstag in Gütersloh veröffentlichten Studie des Rheinisch-Westfälisches Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Als besonders unflexibel stuft das Essener Wirtschaftsforschungsinstitut Frankreich, Italien und viele osteuropäische Länder ein. Für die Studie wurden die Beschäftigungspolitik und die berufliche Mobilität von 23 EU-Staaten miteinander verglichen.
Hohe Durchlässigkeit des Arbeitsmarktes
Am Beispiel der zwei starken Wirtschaftsnationen Deutschland und Frankreich werde der Unterschied sehr deutlich, hieß es. In beiden Ländern genössen Arbeitnehmer einen vergleichsweise hohen Kündigungsschutz. Das trage dazu bei, dass die Hälfte aller Job-Einsteiger zunächst nur einen befristeten Arbeitsvertrag erhalte.
Während in Frankreich ein hoher Mindestlohn und eine starre Lohnsetzung hinzukämen, setze Deutschland auf "flexibilisierende Maßnahmen" wie eine relativ geringe Dauer des Arbeitslosengeldbezugs sowie ein weitreichendes Monitoring- und Unterstützungssystem für Arbeitslose. Länder wie Deutschland oder Schweden seien durch eine relativ hohe Durchlässigkeit des Arbeitsmarktes gekennzeichnet, und ihnen gelinge es, selbst mit einem relativ stark ausgeprägten Kündigungsschutz eine vergleichsweise hohe Durchlässigkeit ihrer Arbeitsmärkte zu erreichen, heißt es in der Studie.
Dadurch würden die Chancen der befristet Beschäftigten auf dem deutschen Arbeitsmarkt erheblich erhöht. So gelinge es 36,3 Prozent der Betroffenen innerhalb eines Jahres der Sprung in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis. In Frankreich schafften das lediglich 10,6 Prozent. Das sei der geringste Wert im EU-Vergleich.
In Deutschland ist laut Studie zudem die berufliche Mobilität deutlich größer als in der Mehrzahl der EU-Staaten. Pro Jahr wechselten 8,4 Prozent der Arbeitnehmer die Stelle, die Wahrscheinlichkeit eines Berufswechsels liege bei knapp vier Prozent, hieß es. In Frankreich sei die Wechselquote nicht einmal halb so hoch. Mobiler als in Deutschland seien Arbeitnehmer nur in Estland, Großbritannien und Schweden.
Reformbedarf bei Qualifizierung
Die hohe Mobilität der Beschäftigten sei ein Zeichen dafür, dass Deutschland den Strukturwandel gut bewältigt und Herausforderungen wie der Digitalisierung gewachsen sei, sagte der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, Aart DeGeus. Er warnte aber vor der einfachen Formel "Je flexibler, desto besser". Bei einer guten Beschäftigungspolitik komme es auf "eine gesunde Balance an zwischen Sicherheit und Flexibilität", erklärte der ehemalige niederländische Arbeitsminister. Die skandinavischen Länder schafften es, Durchlässigkeit mit höherer Jobsicherheit und niedrigerer Lohnungleichheit zu verbinden.
Dagegen hinken neben Frankreich laut Studie auch Polen und südeuropäische Länder wie Italien und Spanien in der Arbeitsmarktpolitik hinterher. Polen und Spanien hätten zwar versucht, seit 2008 ihren Arbeitsmarkt durch eine Erleichterung befristeter Arbeitsverhältnisse zu flexibilisieren. Gleichzeitig sei jedoch der hohe Kündigungsschutz unangetastet geblieben, erklärten die Autoren der Studie. Das führe dazu, dass vergleichsweise wenige der befristet Angestellten dort in ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis wechseln könnten. So liege deren Anteil in den beiden Ländern mit je 28,3 und 24 Prozent weit über dem EU-Durchschnitt von 14,6 Prozent.
Die Studie sieht hier Reformbedarf etwa beim Kündigungsschutz, Arbeitslosenversicherung und Qualifizierungsmaßnahmen. Das Risiko, arbeitslos zu werden, sei für befristet Beschäftigte in Europa mehr als viermal so hoch als für unbefristet Angestellte. Sie erhielten geringere Löhne und hätten weniger Zugang zu beruflicher Weiterbildung.