Keine "Menschenversuche" in der DDR

Keine "Menschenversuche" in der DDR
Neue Charité-Studie zu
Medikamententests westlicher Firmen
Gab es in der DDR "Menschenversuche" im Auftrag westlicher Pharmafirmen? Eine Untersuchung der Berliner Charité kommt zu einem klaren Nein: Klinische Studien wurden auch hinter dem Eisernen Vorhang mit den damals üblichen Standards durchgeführt.
15.03.2016
epd
Markus Geiler (epd)

Berlin (epd) Wie vieles aus dem Westen genossen auch Medikamente westlicher Pharmafirmen in der DDR ein hohes Ansehen. Zugleich waren solche Präparate in dem nicht nur an chronischer Devisenknappheit krankenden Land eine Seltenheit. Patienten, die in dem maroden SED-Staat an einer klinischen Arzneimittelstudie mit westlichen Pharmaka teilnehmen konnten, sahen sich deshalb in der Regel nicht als Versuchskaninchen missbraucht, sondern empfanden das eher als ein Privileg, wie Wissenschaftler um den Berliner Medizinhistoriker Volker Hess herausgefunden haben.

Kein Skandal

Gemeinsam mit den Historikern Laura Hottenrott und Peter Steinkamp untersuchte Hess im Auftrag der Ostbeauftragten den Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), der Bundesstiftung Aufarbeitung und der Bundesärztekammer in den vergangenen zweieinhalb Jahren dieses umstrittene Kapitel deutsch-deutscher Zusammenarbeit. Sie bekamen Hinweise auf bis zu 900 klinische Studien, die im Auftrag von Westfirmen zwischen 1961 und 1990 in der DDR durchgeführt wurden. Davon wurden 321 Studien genauer untersucht und ausgewertet. Der Skandal bleibe dabei aus, sagte Hess, der Direktor des zur Berliner Charité gehörenden Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin ist, bei der Vorstellung der Untersuchungsergebnisse am Dienstag.

Die Studien westlicher Pharmafirmen seien nach den gleichen ethischen Standards durchgeführt worden wie in Westeuropa. Vorwürfe von "Menschenversuchen" in der DDR und "menschlichen Versuchkaninchen" konnte die Forschungsgruppe nicht entdecken. "Diese Standards entsprachen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhang nicht den heutigen international gültigen ethischen Regeln, waren aber nach dem damaligen Verständnis absolut üblich", sagte Hess. Verstöße in Einzelfällen für die DDR konnten die Wissenschaftlicher nicht in vermehrtem Umfang feststellen.

Auftraggeber der klinischen Studien waren zum größten Teil bundesdeutsche Pharmafirmen wie Bayer, Hoechst, Schering oder die Behringwerke, aber auch Unternehmen aus der Schweiz (Roche), Frankreich (Roussel Uclaf), Großbritannien und den USA (Pfizer). Anders als gedacht seien die klinischen Studien in der DDR aber nicht besonders billig zu haben gewesen, sondern der betriebswirtschaftliche Vorteil habe in der disziplinierten Durchführung der Untersuchungen bestanden. In dem zentralistisch-diktatorisch geführten DDR-Verwaltungsapparat gab es nur einen Ansprechpartner, mögliche Kritik wurde nicht geduldet. Das brachte den Firmen im Vergleich zu den westlichen Ländern einen beträchtlichen Zeit- und Effizienzgewinn ein, wie Hess sagte.

Informierte Patienten

Die DDR wiederum bekam so dringend benötigte Devisen und Zugang zu westlichen Präparaten. Die durchführenden Ärzte wiederum hielten auf diese Weise Anschluss an die internationale Wissenschaft. Die Studien wurden DDR-weit in insgesamt 120 sogenannten Prüfzentren durchgeführt, von der Uniklinik über das Bezirkskrankenhaus bis zur Poliklinik. Die meisten Untersuchungsreihen gab es an Einrichtungen in Ost-Berlin, aber auch die Unikliniken von Leipzig, Rostock, Greifswald und anderen Städten waren beteiligt. Entsprechend dem jeweiligen Stand der Wissenschaft wurden zwischen 1961 und Anfang der 1980er Jahre vorwiegend Antibiotika oder Hormonpräparate gestestet, zwischen 1980 und 1990 dann Blutdruck senkende Mittel (ACE-Hemmer) oder Antidiabetika.

Worauf sie sich einließen, wussten die Patienten in der Regel und gaben auch ihre Einverständnis, sagte Hess: "Allerdings gab es damals prinzipiell noch ein viel paternalistischeres Arzt-Patient-Verhältnis." Er habe niemals erlebt, dass ein Patient zu ihm gesagt habe, "wir nehmen das Medikament nicht, weil es aus dem Westen ist", zitiert die Studie einen der Ärzte. Das sei einfach nicht denkbar gewesen.

Die Ostbeauftragte Gleicke sagte, sie sei einigermaßen erleichtert, dass sich die Vorwürfe systematischer Rechtsverstöße in der Studie anscheinend nicht bestätigt haben.