Osnabrück (epd) Der 86-jährige Autor, der seit mehr als 25 Jahren in Paris im Exil lebt, prangerte mit teils drastischen Worten die Kultur und Religion seiner Heimat an. Die Intellektuellen hätten versagt und seien "zu bloßen Mitläufern der Politik verkommen", sagte der Preisträger.
Kritik von syrischen Oppositionellen
Seit die Jury im August 2015 den Preisträger bekanntgegeben hatte, war eine Diskussion darüber entbrannt, ob der bedeutendste arabische Dichter der Gegenwart diese Auszeichnung verdiene. Mehrere syrische Oppositionelle, Menschenrechtler und der Zentralrat der Muslime warfen ihm vor, er habe sich nie eindeutig von der Gewaltherrschaft Assads distanziert. Der Schriftsteller Navid Kermani hatte es abgelehnt, die Laudatio auf ihn zu halten.
Adonis selbst dankte für den Preis, den er als große Ehre empfinde und auf den er stolz sei. Die Grundlage für Frieden und Demokratie sei nach seiner Auffassung die eindeutige Trennung von Staat und Religion. In der gesamten arabisch-islamischen Welt könne er jedoch solche Tendenzen nicht entdecken, betonte der 86-Jährige.
"Ich komme aus einer Welt, deren politische, kulturelle und soziale Tiefenstruktur noch immer von Religion und Stammesdenken geprägt ist - als stünde sie in einem Kontinuum mit der Kultur des Mittelalters", sagte der Dichter und Essayist. Dort stünden autoritäre Regime und ebenfalls autoritäre gewalttätige Gegner einander gegenüber. Keiner Gruppierung gehe es um die "Befreiung der Frau von der religiösen Scharia", um Menschenrechte oder Freiheit.
Der Nahost-Experte Daniel Gerlach sagte in seiner Laudatio, er habe Adonis schon lange ins Herz geschlossen, ohne mit allen seinen Aussagen übereinzustimmen. Der Dichter sei getrieben von der Sehnsucht nach einer anderen Identität als der religiös geprägten. Er forderte ihn auf, der Welt von seiner alawitischen Herkunft und Kultur zu berichten.
Die Alawiten sind eine lange verfemte religiöse Minderheit, der auch der syrische Herrscher Assad angehört. Verteidigen wolle er den umstrittenen Autor gegen die vielfach geäußerte Kritik nicht, sagte der Mitherausgeber des Orient-Magazins "zenith": "Adonis braucht keinen Anwalt."
Islam an sich nicht reformierbar
Adonis sparte auch gegenüber Europa nicht mit Kritik. Dass die Flüchtlingsströme jetzt dorthin drängten, sei nur natürlich. Schließlich trage Europa Verantwortung für die Entstehung der Tyranneien in der arabischen Welt. Denn es habe sich mit den "rückständigen" religiös geprägten Kräften zusammengetan.
Der Dichter forderte die arabischen Denker auf, einen Ausweg zu suchen, allerdings nicht im Pakt mit bestehenden Regimen oder Gruppierungen: "Sie müssen das Neue begründen. Oder soll im Namen der Religion, der Ethnie, der konfessionellen Mehrheit oder in anderem Namen eine andere Form der Tyrannei entstehen?"
Während einer Podiumsdiskussion am Vorabend hatte er betont, er sei nicht gegen die Muslime, sondern nur gegen einen institutionalisierten Islam. Den arabisch-wahabitischen Islam bezeichnete er als unmenschlich und undemokratisch, den Islam an sich als nicht reformierbar. Er wies auch den Vorwurf zurück, er unterstütze den syrischen Machthaber Assad. Er habe ihn in einem Brief sogar zum Rücktritt aufgefordert. Syrische Oppositionsgruppen werde er allerdings auch nicht unterstützen, solange sie sich ebenso auf religiöse Fundamente beriefen.
Oberbürgermeister Wolfgang Griesert und der Jury-Vorsitzende und Universitätspräsident Wolfgang Lücke verteidigten erneut die Entscheidung der Jury für Adonis. Der Dichter werde für sein vehementes Eintreten für eine Trennung von Religion und Staat, für die Gleichberechtigung der arabischen Frau und eine friedliche und demokratische arabische Gesellschaft ausgezeichnet.
Der Preis ist nach dem 1898 in Osnabrück geborenen Schriftsteller Erich-Maria-Remarque benannt, der für seinen Antikriegsroman "Im Westen nicht Neues" berühmt wurde.