Wernigerode, Freiburg (epd)Der Junge heißt Roman Roszatowski. Doch nur bis zum September 1942. Dann verschleppt ihn die SS aus einem Waisenhaus im polnischen Lodz. Roman wird "germanisiert". Fortan trägt er den Namen Hermann Lüdeking, wie eine gefälschte Geburtsurkunde ausweist. Über Umwege kommt das Kind in das Heim "Sonnenwiese" bei Kohren-Salis im Süden Leipzigs, das der von der SS gegründete "Lebensborn" unterhält. Lüdeking gilt im NS-Duktus als "rassisch wertvoll", wird in eine deutsche Pflegefamilie weitergereicht. Seine familiären Wurzeln kennt er bis heute nicht.
Von Heim zu Heim geschickt
Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, ließ am 12. Dezember 1935 in Berlin den Verein "Lebensborn" gründen, dessen verbrecherische Aktivitäten bis heute nachwirken. "Wer bin ich? Woher komme ich? Wer sind meine Eltern? Ich weiß, dass ich darauf nie eine Antwort finden werde", sagte Lüdeking in einem Interview mit dem Verein "Geraubte Kinder - vergessene Opfer". Lüdeking wurde wie viele seiner Leidensgenossen von Heim zu Heim geschickt oder musste wiederholt die Pflegefamilie wechseln.
Mehrere hundert "arische" Kinder verschleppte der Verein aus besetzten Ländern nach Deutschland. Insgesamt wurden in den Lebensborn-Heimen mehr als 12.000 Kinder geboren - die Heime waren Teil der nationalsozialistischen Rasse- und Bevölkerungspolitik. Es handelte sich um Jungen und Mädchen aus SS-Familien oder - zu 50 bis 60 Prozent - um uneheliche Kinder. Die Mütter hatten einen "Ariernachweis" zu erbringen.
Kein Tabu mehr
Gudrun S. kam 1940 im Lebensbornheim "Harz" in Wernigerode zur Welt. Sie durchlief bis 1945 fünf dieser Häuser. "Meine biologischen Eltern kannte ich zunächst nicht", berichtet die Bibliothekarin und Übersetzerin aus Burghausen. Später habe sie erfahren, dass ihre Mutter sie bereits vor ihrer Geburt dem "Lebensborn" überschrieben hatte: "Damit verlor sie alle Rechte auf mich, und von da an war der Lebensborn mein sogenannter Vormund, also Heinrich Himmler."
Jahrzehnte später half ihr bei der Suche nach der Herkunft der Verein "Lebensspuren" mit Sitz in Wernigerode. In ihm haben sich Menschen zusammengeschlossen, die in Lebensbornheimen geboren oder aus dem Ausland geraubt und dort untergebracht wurden. "Endlich war meine Geburt kein Tabu mehr, zum ersten Mal in meinem Leben durfte offen darüber gesprochen werden. Das Zusammentreffen mit Leidensgenossen war eine Wohltat", erzählt S.
Seit Jahren kämpfen die einstigen Lebensborn-Kinder um politische Anerkennung des erfahrenen Unrechts sowie um eine finanzielle Entschädigung. Bislang ohne Erfolg. "Ich wäre schon froh, wenn unser Schicksal anerkannt würde", sagt Lüdeking. "So wüsste ich wenigstens, dass wir geraubte Kinder nicht vergessen sind."
Dass es noch irgendwann zu einer Zahlung kommt, hält aber selbst Christoph Schwarz, der Sprecher des Vereins "Geraubte Kinder - vergessene Opfer" mit Sitz in Freiburg, für unwahrscheinlich. 2013 scheiterte seine Petition im Bundestag.
Seinerzeit teilte ihm das Bundesfinanzministerium schriftlich mit, dass eine Entschädigung für die wenigen Hundert Überlebenden rechtlich nicht möglich sei. Das Schicksal eines zur "Zwangsgermanisierung" verschleppten Kindes allein begründe keinen Anspruch auf eine Entschädigung. Denn: Zahlungen wären nur über das Bundesentschädigungsgesetz für NS-Opfer möglich gewesen. Dessen Antragsfrist lief jedoch schon Ende 1969 aus. Schwarz lässt jedoch nicht locker. Im September richtete er einen offenen Brief an Volker Kauder, den Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag.
Gezielte Suche nach Waisen
Das erste Lebensborn-Heim öffnete im Sommer 1936 im oberbayerischen Steinhöring. Der "arische" Nachwuchs landete zur Pflege oder auch Adoption in SS-Familien, die für die linientreue Erziehung sorgten. Allein in den deutschen Heimen wurden 8.000 bis 9.000 Kinder geboren. Der Lebensborn sei "gleichermaßen Ausfluss und Garant des staatstotalitären Macht- und Herrschaftsgefüges" gewesen, urteilt der Historiker und Buchautor Thomas Bryant.
Auch in Polen und anderen besetzten Ländern wurden Kinder aus ihren Familien gerissen und auf ihre "arische Tauglichkeit" untersucht. Die SS suchte nach Waisen, Halbwaisen, unehelich Geborenen und Kindern, deren Eltern verhaftet oder nach Deutschland verschleppt worden waren. "Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen", sagte Himmler 1943.
"An der Einschleusung von Frauen und Kindern, die als rassisch wünschenswerter Bevölkerungszuwachs gemustert worden waren, war auch der Lebensborn beteiligt", schreibt der Historiker Georg Lilienthal, einstiger Leiter der Gedenkstätte Hadamar.
Die Wissenschaftlerin Dorothee Schmitz-Köster betont, die Heime seien für die betroffenen Mütter ein Ausweg aus der gesellschaftlichen Ächtung von ledigen schwangeren Frauen gewesen. Diese "Schande" habe auch nach 1945 das Sprechen über die Verbindung zum Lebensborn erschwert.
Nicht mehr verstecken
Gudrun S. bestätigt das. Das Thema "Lebensborn" sei für sie beinahe 50 Jahre lang tabu gewesen: "Wir Lebensbornkinder wurden mit unserem 'Stigma' alleingelassen". Ihre Adoptiveltern, bis zu ihrem Tod überzeugte Nazis, hatten ihr strikt verboten, außerhalb der Familie ihre Herkunft auch nur ansatzweise anzusprechen.
Eine finanzielle Entschädigung zu fordern, sei ihr nie in den Sinn gekommen. S. begrüßt es dagegen, dass durch viele Publikationen längst Licht in dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte gekommen ist. Dadurch hätten die Opfer eine gewisse Rehabilitation erfahren, sagt sie: "Endlich müssen wir uns nicht mehr verstecken, uns nicht mehr schämen, keine Schuldgefühle mehr haben."