Kokettiert hat Helmut Schmidt gerne und oft, auch mit seinem hohen Alter. Eigentlich hätte er längst seinen "Schnabel halten sollen", sagte er einmal in einem Zeitungsinterview. Doch der "Elder Statesman" der deutschen Politik hatte etwas zu sagen - und fand Gehör. Am Dienstag ist Schmidt im Alter von 96 Jahren in Hamburg gestorben.
Sein Image vom Krisenmanager als Hamburger Innensenator bei der Flutkatastrophe 1962 und später als Kanzler zu Zeiten des RAF-Terrors Ende der 70er wandelte sich nach dem Ende seiner Regierungszeit grundlegend: Als "Zeit"-Herausgeber, Buchautor und gefragter Interviewpartner wurde Schmidt zur moralischen Instanz in Deutschland.
Ein "Macher", kein "Visionär"
Doch selbst wenn er nichts sagte, erzielte Schmidt Wirkung. "Tatsächlich kann niemand so nervenaufreibend schweigen wie Helmut Schmidt", schilderte "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo einmal seine Erfahrungen aus zahlreichen Interviews. Der Altkanzler pflegte solche Beschreibungen nach einem tiefen Zug an der Menthol-Zigarette lächelnd zur Kenntnis zu nehmen. Selbst die Charakterisierung als arrogant ließ er gelten, zumindest sei er "absichtsvoll manchmal sehr abweisend", wenn man ihm Gespräche über Abseitiges aufdrängen wolle. Ein bisschen gestört habe ihn jedoch eines, sagte Schmidt: die Betitelung als "der Macher".
Was zu Beginn seiner Kanzlerschaft 1974 abschätzig gemeint war und ihn gegenüber dem Visionär Willy Brandt (1913-1992) herabsetzen sollte, fand später allenfalls noch als Anekdote Erwähnung. Zu dominierend wurde das Bild des intellektuellen Beobachters der Zeitgeschichte, das sich Schmidt seit dem Ausscheiden aus der ersten Reihe der Politik erworben hatte.
Spitzname "Schmidt Schnauze"
Fest verwurzelt war Schmidt mit Hamburg, wo er am 23. Dezember 1918 geboren wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg studiert er in der Hansestadt Volkswirtschaft und Staatswissenschaften. In den 50er Jahren setzt er als junger SPD-Abgeordneter Akzente als Debattenredner im Bundestag, seine Respektlosigkeit bringt ihm den Spitznamen "Schmidt Schnauze" ein. Als Kritiker atomarer Bewaffnung liefert er sich erste Rededuelle mit dem CSU-Politiker Franz Josef Strauß (1915-1988), der ihm 1980 als Spitzenkandidat der Union im Bundestagswahlkampf gegenübersteht.
Bundesweit bekannt jedoch macht Schmidt sein entschiedenes Handeln als Hamburger Innensenator während der Flutkatastrophe 1962. Mehrfach, so räumt er rückblickend ein, habe er damals seine Kompetenzen bis hin zum Verfassungsbruch weit überschritten, um das Schlimmste für die Hamburger abzuwenden. Das Macher-Image war geboren.
Respekt von Kontrahent Kohl
Bei seiner schwersten Bewährungsprobe als Bundeskanzler im deutschen Terrorherbst 1977 agiert Schmidt gänzlich anders: Er stellt den Primat des Rechtsstaates heraus, lehnt einen Gefangenenaustausch während der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer (1915-1977) durch die RAF ebenso kategorisch ab wie verfassungsrechtlich fragwürdige Repressalien gegen inhaftierte Terroristen.
Respekt zollte ihm selbst Helmut Kohl in seinen "Erinnerungen": Schmidt habe es angesichts von Konjunktureinbrüchen, Terrorgefahr und Kaltem Krieg nicht leicht gehabt, die eigene Partei und die Koalition mit der FDP zusammenzuhalten, acht Jahre Regierungszeit seien angesichts dessen eine "beachtliche Leistung". Während Schmidt Anfang der 80er Jahre in der SPD vor allem wegen des Nato-Doppelbeschlusses zur Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen zunehmend in die Kritik gerät, offenbaren schlechte Konjunkturdaten die grundlegenden Differenzen mit der FDP in der Wirtschaftspolitik. Was dem CDU-Vorsitzenden Kohl bei der Wahl 1976 nicht gelingt, glückt ihm mit Hilfe der FDP sechs Jahre später: Ein konstruktives Misstrauensvotum beendet am 1. Oktober 1982 die Kanzlerschaft Helmut Schmidts.
Vier Jahre lang bleibt Schmidt danach noch im Bundestag, dann scheidet er endgültig aus der Politik aus. Der Schachspieler und Musikliebhaber trotzt fortan den zunehmenden körperlichen Gebrechen: Vorträge, zahlreiche Buchveröffentlichungen und seine Position als Herausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit" dienen ihm bis zu seinem Tod dazu, sich in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen.
Vom Privatmann Schmidt bleibt vor allem seine langjährige Ehe mit Loki in Erinnerung: zwei Menschen, die wissen, was sie aneinander haben und Seite an Seite in Würde altern. 1942, inmitten des Zweiten Weltkrieges, hatten sich die beiden das Ja-Wort gegeben. Sie kannten sich seit der Schulzeit.
Keine Angst vor dem Tod
Bei der Trauerfeier für die 2010 mit 91 Jahren gestorbene Loki saß der Altkanzler im Hamburger Michel zusammengesunken in seinem Rollstuhl, verbarg das vor Trauer verzerrte Gesicht immer wieder in den Händen. "Loki hatte keine Angst vorm Tode. Und ich habe auch keine Angst vor dem Tod", sagte Schmidt damals.