TV-Tipp: "Polizeiruf 110: Cassandras Warnung" (WDR)

TV-Tipp: "Polizeiruf 110: Cassandras Warnung" (WDR)
WDR Fernsehen, 20.15 Uhr
Missgünstige Kollegen werfen dem Regisseur Dominik Graf gern vor, seine Filme seien auch deshalb so herausragend, weil er regelmäßig das Budget überziehe und daher größere Möglichkeiten habe. Mehr Geld ist aber nicht automatisch gleichbedeutend mit mehr Qualität.

Außerdem traut sich der neunfache Grimme-Preisträger immer wieder, konventionelle Erzählweisen zu ignorieren. Insofern war es durchaus mutig vom Bayerischen Rundfunk (BR), die Premiere des vor vier Jahren erstmals ausgestrahlten Münchener "Polizeirufs" ausgerechnet Graf anzuvertrauen: Künstlerisch sind seine Krimis regelmäßig herausragend, aber das Publikum fühlt sich offenbar (wie unter anderem bei der preisgekrönten Serie "Im Angesicht des Verbrechens") oft überfordert.

Auch "Cassandras Warnung" stellt so eine Herausforderung dar. Das Drehbuch stammt von Günter Schütter, der nicht nur einige von Grafs preisgekrönten Fernsehfilmen geschrieben hat ("Polizeiruf: Der scharlachrote Engel", "Tatort: Frau Bu lacht"), sondern schon vor 17 Jahren "Die Sieger", einen klassischen Polizeifilm. In dieses Genre gehört auch "Cassandras Warnung", weshalb sich das Werk deutlich vom gewohnten familienfreundlichen Sonntagskrimi unterscheidet; und das nicht nur, weil man bereits nach wenigen Augenblicken für Sekundenbruchteile mit dem grausam entstellten Gesicht einer toten Frau konfrontiert wird. Das Stammpublikum des Sendeplatzes wird auch eine ordentliche Einführung des neuen Kommissars Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) vermissen.

Reizvoll, dass manches nicht verständlich ist?

Und noch etwas könnte die Zuschauer stören. Es macht ja den Reiz eines guten Krimis aus, dass man nicht alles versteht. In diesem Fall kann man das durchaus wörtlich nehmen: Regelmäßig überlagern sich diverse Tonebenen, so dass man den einzelnen Dialogen kaum folgen kann. Da werden nicht nur gleichzeitig verschiedene Gespräche geführt, über allem wabert auch noch der Polizeifunk. Das Stilmittel der Kakophonie ist durchaus typisch für die Geschichte, obwohl der Handlungskern gar nicht so kompliziert ist: Im Haus des Polizisten Gerry Vogt (Ronald Zehrfeld) ist eine Frau ermordet worden. Er vermutet, dass eine eifersüchtige verflossene Liebschaft dahintersteckt, die den Gast für Gerrys Gattin gehalten hat. Meuffels ordnet Polizeischutz für Diana Vogt (Alma Leiberg) an. Tatsächlich folgen weitere Mordversuche. Fieberhaft sucht Meuffels derweil nach Cassandra. Erst bei der Rekonstruktion des letzten dramatischen Anschlags im Landhaus der Vogts wird dem neuen Hauptkommissar endlich klar, dass er die ganze Zeit ein Phantom gejagt hat.

Die zuständige BR-Redakteurin Cornelia Ackers schwärmte damals, dieser "Polizeiruf" enthalte die „überraschendste Wendung, die ich je in einem Film erlebt habe“. Das ist zwar hemmungslos übertrieben, zumal versierte Krimi-Fans früh ahnen, wer sich hinter Cassandra verbirgt. Aber Schütters clever konstruiertes Drehbuch sorgt mit seinen vielen komplexen Nebenfiguren immer wieder für verblüffende Momente. Allein der Seitenstrang mit einem vor langer Zeit misshandelten Kind, einer viel später gefundenen Frauenleiche und den Zitaten aus Baudelaires "Blumen des Bösen" ist eine Geschichte für sich; auch wenn Doris Kunstmann als ehemalige Ermittlerin ein bisschen zu nostalgisch dem alten München nachtrauern muss.

Ungewöhnlich, wenn nicht irritierend, ist auch die am Krimi der Siebziger orientierte Bildsprache mit ihren für die damalige Zeit typischen Zoom-Sprüngen (Kamera: Hanno Lentz). Mit Hanns von Meufells hat der BR dagegen einen reizvollen neuen Ermittler-Typus gefunden; und Matthias Brandt einen herausragenden Darsteller. Aber das war nicht anders zu erwarten und hat sich seither jedes Mal aufs Neue bestätigt.