Frau Baumann, mit Ihren Projekten wollen Sie Kunst und Kultur „als Grundnahrungsmittel durch partizipatorische Prozesse für unterschiedliche Zielgruppe zugänglich machen“. Kann dieser Ansatz bei der Aufnahme von Flüchtlingen und der Integration von Migranten bei uns eine Rolle spielen?
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Benedikte Baumann: Davon bin ich fest überzeugt. Künstlerische Prozesse schaffen eine kulturelle Annäherung über das gemeinsame Erleben. Das Gefühl von Fremdheit löst sich auf, und so können kommunikative Brücken entstehen. Die Sprache der Musik hat zum Beispiel die Kraft, kulturelle Unterschiede aufzuheben und im gemeinsamen Handeln zwischenmenschliche Verbindungen zu stiften.
Hilfsorganisationen berichten von großer Spendenbereitschaft zugunsten von Flüchtlingen. Projekte wie das Haus der Familie der Evangelischen Thomas-Kirchengemeinde in Bonn unetrstützen Flüchtlinge dabei, sich zurechtzufinden. Reicht es aber aus, die materiellen Bedürfnisse dieser Menschen zu erfüllen?
Baumann: Für einen gelungenen Start steht sicher diese Bedürfnisbefriedigung an erster Stelle. Doch dann droht ein Vakuum: Die Menschen werden materiell versorgt, aber teils aufgrund der großen Zahl der Flüchtlinge in Massenunterkünften nur verwahrt. Ein Tag ist lang ohne Beschäftigung, ohne Arbeit, ohne sinnhaftes Handeln in einem fremden Land, und umgeben von vielen fremden Menschen, die eine andere Sprache sprechen.
Kennen Sie ein Integrationskonzept, das über bloße Unterbringung und Betreuung hinausgeht?
Baumann: Es gibt zahlreiche Initiativen von Kommunen, Institutionen oder Bürgern, die sich teils hoch motiviert für eine lebendige Willkommenskultur engagieren. Doch ein umfassendes Integrationskonzept, welches auch Perspektiven aufzeigt, ist mir nicht bekannt.
Es ist notwendig, aufeinander zuzugehen
Welchen Stellenwert hat die Kultur für den Weg der Integration - wie wichtig ist Befähigung zur kulturellen Teilhabe?
Baumann: Alltags- und Lebenskultur im Blick zu haben, halte ich für wesentlich. Es ist absolut notwendig, aufeinander zuzugehen. Migranten sollten lernen dürfen und in einen Austausch hineinfinden. Flüchtlinge sollten nicht nur verwahrt werden, sondern auch eine „soziale Erstversorgung“ erfahren. Nach monatelanger gefühlter oder tatsächlicher Isolation, nach traumatischen Erfahrungen, ist keine positive Stimmung oder offene Grundhaltung zu erwarten.
Muss also klassische Sozialarbeit, wie sie in staatlichen und kirchlichen Einrichtungen geleistet wird, neu gedacht werden?
Baumann: Die bisherige Hilfeleistung von Kirche und Staat hat ihren Wert. Der Ansatz der Sozialarbeit ist in Deutschland jedoch in der Regel strukturell gegliedert - nach Angeboten für Einzelne und Familien. Die Gruppen, mit denen gearbeitet wird, sind relativ klein. Für den Umgang mit der sehr großen Zahl von Menschen in einem Asylbewerberheim ist noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden worden.
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Worauf kommt es an?
Baumann: Wichtig ist die Bereitschaft, voneinander lernen zu wollen. Nur materieller Hilfeempfänger zu sein, führt in die „erlernte Hilflosigkeit“. Wer nur erklärt bekommt, wie die Dinge in Deutschland funktionieren, aber selbst nicht teilhaben und sich ausdrücken kann, wird schwerlich in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Zunächst müssen die hauptberuflich oder ehrenamtlich Engagierten den Flüchtlingen die Hand reichen. Die Erwartung einer von selbst wachsenden Anpassung und Integration ist grundsätzlich falsch.
Zwei Aachener Filmemacher haben mit zwölf deutschen und ausländischen Jugendlichen einen Film zum Thema „Wie geht Deutschland?“ produziert. Der vom Bundesministerium für Bildung geförderte Film wird öffentlich gezeigt und diskutiert. Vorbildlich?
Baumann: Absolut. Miteinander künstlerisch zu gestalten ist etwas, das über soziale Arbeit weit hinausgeht. Sich selbst auszudrücken, die eigene Position zu reflektieren, sich mit den Mitwirkenden wie auch dem späteren Publikum auszutauschen, halte ich für sinnstiftend. Wir von Part3 planen ein integratives Netzwerkprojekt und möchten regelmäßige kulturell verbindende, kreative und sinnstiftende Beschäftigungsangebote in Flüchtlingsunterkünften im Ruhrgebiet gestalten.
Gemeinden müssen
gewohnte Pfade verlassen
Kirchengemeinden verfügen über Räume, Angebote und eine historisch gewachsene Kompetenz. Wie sehen Sie ihre Rolle bei der „sozialen Erstversorgung“?
Baumann: Ich kann mir gut vorstellen, dass sie ihre Rolle weiter ausbauen. Dafür müssen sie gewohnte Pfade verlassen. Aus dem vertrauten Gemeindehaus herauszutreten, um sich auf unbekanntem Terrain auf fremde Menschen einzulassen, braucht nicht nur eine Portion Mut. Nötig ist auch die Bereitschaft zum Erwerb interkultureller Kompetenz. Die vorhandene Infrastruktur der Evangelischen Kirche kann genutzt werden, um eine lebendige Arbeit und ein vitales Miteinander mit Flüchtlingen zu entwickeln.
Auch Deutschland hat eine salafistische Szene. Ist diese Gruppe mit Projekten der kulturellen Teilhabe überhaupt erreichbar?
Baumann: Wenn sich ein junger Mensch erst einmal radikalisiert hat, ist er kaum noch mit kulturellen Angeboten zu erreichen. Tiefe Überzeugungen lassen sich schwerer beeinflussen als zunächst oberflächliche Meinungen. Anders ist es, wenn dieser Mensch zuvor das Zusammenleben als von gegenseitigem Interesse geprägt und sich selbst nicht als ohnmächtig am Rand der Gesellschaft erlebt. Wenn sie sich in einer Gemeinschaft anerkannt fühlen, sind alle Menschen - unabhängig von ihrer Religion, Herkunft und Zugehörigkeit - durch solche Projekte erreichbar.