Einige halten ihn für überschätzt: Geboren als Pastorensohn am 15. August 1740 im holsteinischen Reinfeld verfolgte Matthias Claudius weder seine Dichter-Karriere noch die des Verwaltungsfachmanns mit besonderem Ehrgeiz. Er entzog sich protestantischem Arbeitsethos, wie es Biograf Martin Gecke ausdrückt. Die "Existenz" sei die "erste aller Eigenschaften", schreibt Claudius selbst in einem Brief an Sohn Johannes. Sein Werk bleibt überschaubar. Der Theologe Helmuth Burgert nannte ihn abfällig "Kalenderonkel" und "Pastorenfetisch".
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Doch hat Claudius' gefühlvolle und oft zugleich ironische Lyrik, in der Alltagsleben und Glauben erscheinen, einen unnachahmlichen und eigenen Ton. Schon Zeitgenossen rühmten seine Verse. Sie entsprachen dem empfindsamen Geschmack und der Idee vom ursprünglichen ländlichen Leben, wie sie damals en vogue waren. Zwischen Aufklärung und Romantik nimmt Claudius einen besonderen Platz ein.
Dafür steht das Lied "Der Mond ist aufgegangen", das wohl um 1778 entstand. Als idyllisches Volks- und Schlaflied wurde es rasch beliebt: Claudius staunt über die Schöpfung, lässt aber auch Todesahnungen anklingen ("Kalt ist der Abendhauch"). Der Vergänglichkeit stellt er Glauben und Mitgefühl für den Nächsten, den "kranken Nachbarn", entgegen. Heute steht das Lied, das Abraham Peter Schulz 1790 vertonte, im Evangelischen Gesangbuch - ein Inbegriff protestantischer Glaubenserfahrung.
Claudius' Freund Johann Gottfried Herder nahm es früh in seine Volksliedsammlung auf. Der Weimarer Generalsuperintendent unterstützte den Dichter, wo er konnte. Claudius stand mit etlichen Geistesgrößen in Kontakt, darunter mit Lessing, Klopstock, Carl Phillip Emmanuel Bach und dem Philosophen Hamann, der Claudius "Asmus"-Bände überschwänglich lobte. Goethe dagegen fand keinen Zugang zu Claudius; und das galt auch umgekehrt.
"Asmus" - das ist Claudius' Pseudonym. Als Redakteur der Zeitung "Wandsbecker Bothe" führt er die Figur ein und lässt sie im Dialog mit "Vetter Andres" über Gott und die Welt reden. Rund 400 Leser hatte das Blatt des Hamburger Verlegers Bode, das sich an gebildete Bürger wandte und für dessen originelles Feuilleton - dank Claudius - Literaten von Rang schrieben.
Claudius verbindet im "Bothen" Bildung mit Unterhaltung. Er reflektiert Neues aus Theologie, Philosophie, Literatur und Musik sowie Medizin und Technik; dabei will er den Leser nicht bevormunden, sondern ins Gespräch ziehen. Der finanzielle Erfolg bleibt aus. Claudius wird 1775 gekündigt. Im selben Jahr erscheinen aber seine Arbeiten unter dem Titel "Asmus omnia sua secum portans (Amus und alles, was er bei sich trägt) oder Sämtliche Werke des Wandsbecker Bothen". Es sollten acht Teile werden.
"Zweifellos ein Reaktionär"
In Wandsbeck, heute der Hamburger Stadtteil Wandsbek, hat er eine fast lebenslange Heimstätte gefunden: Hier lernt er die 17-jährige Anna Rebecca Behn kennen - eine Gastwirts-Tochter, die kaum gebildet, aber eine anziehende Persönlichkeit ist. Claudius nennt sie "sein Bauernmädchen". "Aber lieb hab ich sie darum nicht weniger", schreibt er an Herder. 1772 heiratet er Rebecca.
Es ist eine große und dauerhafte Liebe. Anders als Goethe, der seine nicht standesgemäße Frau jahrelang versteckt, schreibt Claudius Gedichte über sie. Fast alle Gäste im Hause preisen ihre natürliche und liebenswürdige Art. Das Ehepaar hat elf lebende Kinder. Nach einem Bittgesuch an den dänischen Kronprinzen haben auch die Geldsorgen ein Ende: Als Bankrevisor in Altona bleibt ihm Zeit genug für seine Schreibarbeit.
Neue "Asmus"-Bände enthalten das Bauernlied ("Wir pflügen und wir streuen") und das Kriegslied ("'s ist Krieg! 's ist Krieg! Oh Gottes Engel wehre, Und rede Du darein!"). Ab Teil 4 werden sie aber mehr und mehr theologisch-spekulativ. Claudius, der auch Freimaurer ist, übersetzt etwa ein Werk des französischen Mystikers Saint-Martin. Etliche Freunde wenden sich ab - auch Herder reagiert befremdet.
Claudius' anti-aufklärerische Haltung zeigt sich am deutlichsten in seiner vehementen Ablehnung der Französischen Revolution. Er verteidigt die alte feudalistische Ständeordnung bis hin zur Pressezensur, weil er die Obrigkeit von Gott eingesetzt glaubt. Claudius sei "zweifellos ein Reaktionär", meint der Germanist Reinhard Görisch, weist aber auch auf dessen Sozialkritik: Er habe die Fürsten ermahnt, zum Wohle der Untertanen zu handeln.
"Der König sei der beßre Mann, sonst sei der beßre König", dichtet Claudius. Auch dem "Schwarzen in der Zuckerplantage" seines Gönners von Schimmelmann widmete er ein empathisches Lied: Der "Narr" (Goethe) darf auch den Herrscher kritisieren.
Der Tod hat Claudius ein Leben lang beschäftigt. Sein Bruder starb jung, ebenso seine geliebte Tochter Christiane. Selbst alt und krank, hoffte er noch zu Lebzeiten Gott zu schauen, wie Enkelin Agnes Perthes berichtete. Er starb mit den nicht mehr vollendeten letzten Worten: "Helft mir Gottes Güte preisen - Gott seg(ne Euch)."