Ich wollte Berliner sein, wurde das vor zehn Jahren auch, aber blieb das nicht lange. Dafür lebte ich mehr als sechs Jahre am Bodensee, davon eine kurze Zeit im Schwarzwald. Wie sollte nur meine Lebensvorstellung von der urbanen Welt in die grüne Landschaft passen, fragte ich mich, bevor ich aufs Land zog. Was mich dann am See und im Wald erwartete, übertraf all meine Vorstellungen. Sofort fühlte ich mich von der Ehrlichkeit und Herzlichkeit der Menschen mehr als nur angenommen. Das half mir, mich einzuleben und anfangs vorhandene Vorurteile hatte ich schnell begraben. Heute kann ich frei durchatmen: in der Stadt und auf dem Land.
Sich gegenseitig anzunehmen, wie man ist, fordert mich wirklich heraus. Mein Kollege Frank Muchlinsky trug neulich den perfekten Pullover für meine Interpretation der Losung: "Missverstehen ist das Normale". So geht es mir in jedem Streit.
Egal ob mit meinem Mann, meinen Kindern, meiner Mutter oder meinen Geschwistern: Streits sind für mich ein einziges Missverständnis und sorgen ja in der Regel dafür, sich ganz und gar nicht annehmen zu können. Sich gegenseitig diesen Schutzraum zu nehmen, der zum Annehmen gehört. Deswegen ist die Jahreslosung für mich eine echte Aufgabe.
Ich war in der fünften Klasse, es war Adventszeit. Meine Klassenlehrerin machte den Vorschlag, zu Weihnachten zu "wichteln". Aber keine Sachgeschenke, sondern "Freundlichkeit". Jeder von uns sollte den Namen eines Mitschülers oder einer Mitschülerin zugelost bekommen, zu dem wir dann bis zu den Weihnachtsferien ganz besonders freundlich sein sollten: Vom Tür aufhalten bis zur Hausaufgabenhilfe, vom Teilen des Schokoriegels bis hin zum einfachen Lächeln.
Und dann zog ich ausgerechnet Martin, meinen "Intimfeind". Mit ihm hatte ich mich sogar schon geprügelt. Ich ließ ihn dann absichtlich vor in der Schlange in der Cafeteria. Und ich habe ihn auch einmal in meine Mannschaft gewählt beim Fußball. Am meisten aber hat mir der schlitzohrige Rat meiner Lehrerin geholfen: "Beim Wichteln soll ja bis zum Schluss geheim bleiben, wen ihr gezogen habt. Deshalb - zum Verschleiern - am besten zu möglichst vielen Mitschülern besonders freundlich sein…!"
Wir gehen durch eine konservativ geprägte Kleinstadt in der Provinz. Ich stamme aus dieser Stadt. Jetzt bin ich zu Besuch, meine Freundin geht neben mir, Hand in Hand. Da steht ein älterer Mann auf dem Gehweg, er starrt uns an, glotzt uns auch noch hinterher. Unangenehm.
Aber ich weiß es ja: Wie es ist, wenn man zum ersten Mal im Leben ein Frauenpaar sieht. Wenn man bisher immer nur gehört hat: "Das ist Sünde. Und das gibt es bei uns nicht." Ich drehe mich zu dem Mann um, lächle in sein erstarrtes Gesicht - und nehme den Blick an.
Das ist nicht von mir. Ich habe es von einer Freundin gehört, und nachdem ich kurz verwirrt war, hat es mir eingeleuchtet. Wir sollen einander lieben, wie Gott uns liebt, also völlig unabhängig davon, wer wir sind, wie wir sind, was wir tun oder sonst irgendetwas. Trotzdem können wir uns über andere ärgern. Das tut Gott auch. Gott kann sogar an der gesamten Menschheit verzweifeln und liebt doch jeden einzelnen Menschen.
Wenn es also heißt "Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat", dann sollen wir es genauso tun: Jeden Menschen lieben, jeden achten. Wenn nötig, sich mit Einzelnen auseinandersetzen und streiten. Lieben aber nicht mögen müssen. Das finde ich ausgesprochen entlastend.