Kirchen, Gewerkschaften und Sozialverbände hatten die Reform bereits 2010 als verfassungswidrig eingestuft. Selbst die SPD, die die Hartz-IV-Novelle mittrug, hegte damals Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit. Die Kritik wurde nun in der Entscheidung des größten deutschen Sozialgerichts vom 25. April bestätigt. "Immer noch sind die Hartz-IV-Leistungen zu niedrig und werden falsch berechnet", sagt Anne Lenze, Professorin für Sozialrecht an der Hochschule Darmstadt.
Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 der Bundesregierung klare Hausaufgaben aufgegeben. Die Richter hatten gerügt, dass die Hartz-IV-Sätze, insbesondere für Kinder, "ins Blaue hinein" geschätzt und nicht richtig ermittelt worden seien. Der Gesetzgeber müsse diesen verfassungswidrigen Zustand daher zum 1. Januar 2011 beheben.
Auch beim Bundessozialgericht in Kassel steht demnächst die Höhe der Hartz-IV-Sätze und deren Berechnung auf dem Prüfstand. In zwei anhängigen Verfahren soll geklärt werden, ob die 2010 von CDU, FDP und SPD beschlossene Hartz-IV-Reform rechtswidrig ist.
Die Bundesregierung besserte nach der Karlsruher Entscheidung vom Februar 2010 die Hartz-IV-Vorschriften nach. So wurden die Regelleistungen für Alleinstehende und Paare um fünf Euro auf 364 Euro (2012: 374 Euro) angehoben. Kinder können nun beim Jobcenter sogenannte Teilhabeleistungen beanspruchen, so dass Kosten für den Sportverein oder auch notwendige Nachhilfestunden zusätzlich übernommen werden. Dazu können sie entsprechende Bildungsgutscheine bei ihrem Jobcenter beantragen.
Doch Armutsexperten und Juristen halten von der Reform wenig und machen zahlreiche Fehler aus. "Man wollte von Anfang an nicht die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Das ist der eigentliche politische Skandal", meint Max Eppelein, Jurist beim DGB Rechtsschutz in Kassel. Man habe die Regelsätze klein gerechnet, damit es für die Politik nicht zu teuer wird. Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, forderte daher, dass die Politik bei der Berechnung der Kinderregelsätze ihren "statistischen Schrotthaufen" abräumen müsse.
"Laut Regelsatz steht einem 16-Jährigen 3,50 Euro pro Tag für Ernährung zu", sagt Eppelein. Jeder, der Kinder habe, wisse, dass das bei weitem nicht ausreicht. "Es ist empirisch nicht ermittelt worden, was Kinder und Jugendliche tatsächlich brauchen", sagt auch Lenze. Stattdessen werde auf einer viel zu kleinen Datengrundlage der Regelsatz bestimmt. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht hier Transparenz und Nachvollziehbarkeit gefordert.
Ein Hauptkritikpunkt an der Berechnung der Hartz-IV-Sätze ist die Auswahl der Referenzgruppe, nach der die Höhe des Existenzminimums und damit der Regelleistung festgelegt wird. Bis Ende 2010 wurden die Hartz-IV-Sätze nach den Einkommen und Ausgaben aus den unteren 20 Prozent der Niedrigverdiener berechnet. Ohne "plausible Begründung" wurden nun für die Regelsatzberechnung die unteren 15 Prozent der Einkommen als Grundlage genommen, sagt Uwe Becker vom Vorstand der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe.
Das Bundesarbeitsministerium sieht hier indes kein Problem. Man habe aus der Referenzgruppe Sozialhilfe- und Hartz-IV-Bezieher heraus gerechnet, so dass die Hilfeleistung sich "tendenziell erhöht" hat. Lenze und Eppelein widersprechen. Tatsächlich beinhalte die Referenzgruppe viele Gruppen, die nicht mehr als Hartz IV haben und daher eigentlich nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht berücksichtigt werden dürfen. "Bis zu fünf Millionen Menschen, die in verdeckter Armut leben, sind in der Referenzgruppe noch drin", sagt Lenze.