Die Handlung dieses "Tatort" aus Berlin erinnert an den Entführungsfall Jakob von Metzler, die Umsetzung ähnelt in ihrem konsequent sachlichen Dokumentarstil der gleichnamigen Verfilmung dieses Verbrechens, die das ZDF 2012 ausgestrahlt hat: Kurz vor Ostern ist der Sohn des Ehepaars Steiner (Lena Stolze, Horst-Günter Marx) entführt worden. Der Vater sitzt im Vorstand einer Privatbank, die Familie ist überaus vermögend.
Demonstrative Leidenschaftslosigkeit
Betont distanziert schildert Klaus Krämer (Buch und Regie), wie der Polizeiapparat reagiert. Die Kommissare Ritter und Stark (Dominik Raacke, Boris Aljinovic), sonst gern emotional engagiert, verschanzen sich hinter einer Maske der Routine, die unter anderem die Verdächtigung der Eltern mit einbezieht. Diese demonstrative Leidenschaftslosigkeit lässt den Film zunächst sehr kühl wirken, zumal Krämer auf jede zwischenmenschliche Gefühlsregung verzichtet: Die Ermittler erledigen ihre Arbeit; was derweil in ihnen vorgeht, geht keinen was an. Diese Haltung ändert sich auch nicht, als der Dritte im Bunde auftaucht. Dafür darf man nun Zeuge eines doppelten Kräftemessens werden, denn der Entführer (Edgar Selge) lässt sich bereitwillig festnehmen, nachdem er die erste Rate des Lösegelds, immerhin 500.000 Euro, freigiebig auf dem Alexanderplatz verteilt hat: Uwe Braun ist vor langer Zeit von Steiner in den Ruin getrieben worden, versichert aber, er sei nicht auf Rache aus.
Fortan erzählt Krämer die Geschichte als Kammerspiel, bei dessen Inszenierung er seinem Stil jedoch treu bleibt (Bildgestaltung: Ralph Netzer). Legen Regisseure bei Vernehmungsszenen ansonsten großen Wert darauf, die Gesprächssituation optisch ansprechend und abwechslungsreich aufzulösen, begnügt sich Krämer damit, seinen Schauspielern zuzusehen. Natürlich lebt der Film auch von der Spannung, schließlich ist die Befragung des Entführers ein Wettlauf mit dem Tod. Selbst wenn die Polizisten wollten, sie dürften ihn gar nicht mehr laufen lassen, auch wenn die Eltern bereit wären, seine zweite Forderung (10 Millionen Euro) zu erfüllen; der Junge würde das Osterwochenende nicht überleben. Spätestens jetzt enden auch die Parallelen zum Fall Jakob von Metzler: Die Überlegung, ob man den Aufenthaltsort des Jungen mit der Androhung von Gewalt aus Braun herauspressen kann, wird nicht mal andeutungsweise in Erwägung gezogen. Dafür konfrontieren die Kommissare den Täter mit einer Bezugsperson: Sie hoffen, dass ihn der moralische Appell seines Sohnes Michael dazu bewegt aufzugeben.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dass die Szenen dennoch eine derart große Intensität entwickeln, ist Krämers Arbeit mit den Darstellern zu verdanken. Da seine Inszenierung auf jeden Firlefanz verzichtet, empfindet man die sich über Tage hinziehende Vernehmung schließlich ähnlich zermürbend wie die Kommissare und der Täter. Krämer hat mit Raacke und Aljinovic bereits den gleichfalls unerhört spannenden "Tatort"-Krimi "Hitchcock und Frau Wernicke" (2010) und mit Edgar Selge mehrere "Polizeiruf"-Filme gedreht; das gegenseitige Vertrauen hat ohne Frage dazu beigetragen, dass die Befragungsszenen wie ein Destillat wirken. Interessant am Rande: Michael Braun wird von Jakob Walser gespielt, dem Sohn von Edgar Selge und Franziska Walser; es ist ihr erste gemeinsamer Film. Nicht mal der großartige Selge kann allerdings verhindern, dass am Ende Brauns Bekenntnis zur Weltverbesserung ein wenig überraschend erfolgt und daher wie aus dem Hut gezaubert anmutet.