Über 90 Prozent der antisemitischen Straftaten werden in Deutschland von Rechtsextremisten begangen. Und dennoch hat man das Gefühl, dass judenfeindliche auch in der politischen Mitte immer salonfähiger wird. Ist das wirklich so?
Wolfgang Benz: Nein. Antisemitismus war immer in der Mitte der Gesellschaft, seit es Antisemitismus gibt. Der ist nicht Mitte des 19. Jahrhunderts von irgendwelchen randständigen Debilen und Idioten verbreitet worden, sondern von Professoren und Doktoren und Publizisten. Aber der Bankdirektor oder Universitätsprofessor, der Juden nicht mag, schlägt natürlich nicht auf Juden ein. Er krakeelt auch nicht auf der Straße herum, dass die Juden ein Unglück seien und dass man sie alle verjagen oder totschlagen müsse. Er macht das mit fein emporgezogener Augenbraue und spricht von der "Ostküste" und verständigt sich mit Seinesgleichen über Chiffren und Codes. Das hat sich nicht geändert.
Findet dieser Judenhass aufgrund der Wirtschaftskrise mehr Anklang?
Benz: Nein. Diese Angst ist uralt. Schon vor 30 Jahren warnte man, dass die deutsche Demokratie mit einer Wirtschaftskrise und einer Million Arbeitslosen kippt. Inzwischen haben wir erheblich mehr Menschen ohne Arbeit, aber auch Medien, die auf der richtigen Seite stehen. Antisemitismus ist aber in der Bundesrepublik geächtet wie in keinem anderen Staat. Deshalb ist man unglaublich vorsichtig und äußert sich nicht offiziell. Es ist dieser trostlose Haufen von Neonazis und unverbesserlichen Rechtsextremisten, die Straftaten und provokative Propagandadelikte begehen. Der Rest der Bevölkerung ist philosemitisch - entweder aus Überzeugung oder aus Klugheit und Pragmatismus.
Man hört aber, dass die Antisemiten immer frecher würden.
Benz: Das ist auch so ein Mantra, dass, das was die Antisemiten früher anonym sagten, sagen sie heute mit vollem Namen. Das sagte Heinz Galinski [Anm. d. Red: der frühere Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland] schon vor 25 Jahren. Es hat sich aber nichts geändert. Es gibt ein Bodensatz von unbelehrbaren Antisemiten, die in den rechtsextremen Parteien organisiert sind oder ihnen nahe stehen. Ein bis drei Prozent der Bevölkerung sind diese Hardcore-Antisemiten. Dann gibt es die 20 Prozent, die in Umfragen negative Einstellungen gegenüber Juden äußern.
In Deutschland wird der Antisemitismus offiziell geächtet. Trotzdem nimmt Deutschland beim Vergleich mit sieben anderen europäischen Staaten nur einen mittleren Platz ein. Die Bundesrepublik liegt nach dem Antisemitismusbericht vor Italien, Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden. Wie erklären Sie das?
Benz: In Frankreich ist der Antisemitismus nicht weniger verbreitet als in Deutschland. Ächtung ist zudem ein Mittel, das an der Oberfläche funktioniert. Aber wie viele Deutsche glauben, dass es Tabus gäbe, dass man Israel nicht kritisieren dürfe? Das erzeugt natürlich außer dem positiven Effekt, dass nichts an die Oberfläche kommt, dass keiner auf dem Marktplatz steht und schreit "Juden raus", auch einen Stau von Emotionen nach dem Motto: Ich darf ja nichts gegen Juden sagen.
In der Schule
Wissen vermitteln
statt Moral verkünden
Die Experten sprechen von einem Schuldabwehr-Antisemitismus bei Schülern, der durch eine falsche Bildung erzeugt würde.
Benz: Das würde ich nicht Antisemitismus bezeichnen, sondern negative Einstellungen zu Juden. Alle Schüler erzählen bei Befragungen, dass sie mit 12 Jahren in der Schule im Religionsunterricht "Anne Franks Tagebuch" lesen und tief ergriffen sind. Dann kommt die Deutschlehrerin mit Tränen umflorter Stimme und sagt: "Liebe Kinder, heute müssen wir uns mit was ganz Traurigem beschäftigen", und dann kommt "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl". Und dann zum dritten Mal noch im Geschichtsunterricht und dann sagen die Schüler: Es reicht! Warum kommen die Alten immer mit Tränen in der Stimme und belehren uns über etwas, womit wir nichts zu tun haben? Das ist eine falsche Pädagogik von überengagierten Lehrern, die Moral verkünden und über Schuld und Verantwortung sprechen statt Wissen zu vermitteln. Daher erzeugen sie bei den Schülern eine Abwehrreaktion.
Medienberichte erwecken den Eindruck, dass die meisten antisemitisch motivierten Straftätern Arabischstämmige oder Muslime seien. Die Statistiken der Polizei belegen diese Auffassung nicht. Wie erklären Sie diese Diskrepanz?
Benz: Solche Medienberichte sind sehr beliebt, weil sie uns bestätigen, dass wir im Gegensatz zu den Islamisten auf der richtigen Seite sind. Im Jahr 2010 begingen Ausländer – überwiegend arabisch- und türkischstämmige Jugendliche - sechs der insgesamt 37 antisemitischen Gewalttaten; 2009 waren es neun von insgesamt 40 Taten, mehr als doppelt so viel wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Sie fallen auch in der Kriminalstatistik überproportional auf. Die Polizei und die Justiz sind hier gefragt, aber man darf nicht jeden Muslim haftbar machen für islamistische Extremisten. Das ist aber die Absicht von vielen Islamhassern.
Die Experten stellen im Antisemitismusbericht fest, dass der Judenhass in den 1990er Jahren in den neuen Bundesländern deutlich geringeren als in Westdeutschland war, aber mittlerweile fast den gesamtdeutschen Durchschnitt erreicht habe. War die Judenfeindlichkeit in der DDR wesentlich geringer?
Benz: Ich glaube, es sind demoskopische Probleme, die zu diesen Ergebnissen führten. Es steht völlig außer Frage, dass der Antisemitismus in der DDR ähnlich war wie in der Bundesrepublik. Nur in der Bundesrepublik hat sich die negative Einstellung gegenüber Juden vor allem an Entschädigungen von NS-Opfern festgemacht, als ob die Juden sich noch an ihrem Unglück bereicherten. In der DDR im Gegensatz dazu lautete das Schlagwort "Zionismus". Wenn man so gefragt hätte, dann hätten die meisten Befragten vom "Schurkenstaat Israel" gesprochen, der den Weltfrieden bedrohe. Ich habe Anfang der 1990er Jahren große Anstrengungen unternommen, um eine seriöse Meinungsumfrage auf dem Gebiet der DDR zu führen, so wie das 1945 in Westdeutschland der Fall war. Das hätte 300.000 DM gekostet und die wollte niemand bezahlen.
Wolfang Benz war von 1990 bis 2011 Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und ist heute emeritierter Hochschullehrer.