"Wer Monate auf der Straße lebt, ist nicht mehr gesund"

"Wer Monate auf der Straße lebt, ist nicht mehr gesund"
Rund zehn Millionen Menschen in Deutschland sind Schätzungen zufolge von Armut betroffen, etwa 250.000 sind ohne Obdach. Die Tendenz ist steigend: Die Zahl der Wohnungslosen ist in den letzten zehn Jahren um rund 40 Prozent gestiegen. Zunehmend verbleiben auch Frauen und Menschen unter 25 Jahren ohne Obdach.
24.01.2012
Von Marijana Babic

Ein harter Winter macht das Leben schwer. Spätestens ab November brechen für Obdachlose eisige Zeiten an. Zahlreiche Menschen erfrieren jedes Jahr. Das St. Ursulaheim in Offenburg ist die Anlaufstelle für Obdachlose im Ortenaukreis, dem größten Landkreis in Baden-Württemberg. Vor allem bei klirrender Kälte und gesundheitlichen Problemen ist das Heim oftmals die letzte Rettung. Denn wer auf der Straße lebt, der zahlt einen hohen Preis. Soziale Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit und gesundheitliche Probleme sind dabei einige Aspekte.

"Wer drei Monate auf der Straße lebt, ist nicht mehr gesund", führt Aki Kiokpasoglou, Sozialpädagoge, Streetworker und stellvertretender Heimleiter des St. Ursulaheims, in die Problematik ein. Mangelernährung, Rheuma, Hauterkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparats, psychische Fehlentwicklungen und Suchtproblematik: Unter Obdachlosen ist zum Beispiel die Anzahl der psychisch Erkrankten fünfmal höher als beim Rest der Bevölkerung. Ein Drittel hat zudem massive Alkoholprobleme. Schwierige Voraussetzungen, um wieder auf die Beine zu kommen.

Nicht alle Obdachlosen wollen Hilfe annehmen

Kiokpasoglou sucht dabei die Menschen gezielt vor Ort auf: geht zu einschlägigen Treffplätzen, versucht mit Einzelnen und Gruppen ins Gespräch zu kommen, vermittelt zwischen Anwohnern und Betroffenen, wirbt um Verständnis. Dabei wollen beileibe nicht alle Obdachlosen Hilfe annehmen – viele haben schlechte Erfahrungen gemacht und der Streetworker muss häufig Überzeugungsarbeit leisten. Auf einen Hinweis hin holte er sofort einen Gehörlosen von der Straße, der vor einem großen Kaufhaus in Offenburg auf dem kalten Boden sein Dasein fristet. "Stellen Sie sich vor, was das bedeutet", sagt Kiokpasoglou, "obdachlos und auch noch gehörlos. Das ist eine fatale Kombination."

Durch aufsuchende Straßenarbeit hat Kiokpasoglou (Bild links, Foto: Marijana Babic) auch den 52-jährigen Klaus gefunden, der sich letztes Jahr im Ursulaheim im Kälteschutz befand und dessen Geschichte als typisch gelten kann. Seine Augenlider sind geschwollen, die Haut ist fleckig: "Ich habe ein großes Problem mit Alkohol", gibt er offen zu, "ich hab' damals deswegen erst eine Abmahnung bekommen und dann die Arbeit endgültig verloren. Als diese weg war, waren auch Wohnung und Freunde weg. Seitdem schlage ich mich durch. Wenn ich betrunken war, hab' ich auch aggressiv gebettelt." Nachts habe er unter der Europabrücke in Kehl bei Straßburg an der deutsch-französischen Grenze gelegen, dort, wo Drogenhändler und Zuhälter ihr Revier haben.

Als nächstes will Klaus wieder einen Alkoholentzug in einer Klinik wagen: "Sonst stürze ich ins Nichts. Vom Bier geht's nämlich zum Wein und dann zum Schnaps." Dass er im Ursulaheim im Rahmen des Kälteschutzes übernachten darf, dafür ist er dankbar, auch für die offene Atmosphäre: "Hier ist es warm und man kann mit den Leuten reden. Mir bedeutet das viel. Im Winter ist nämlich echt schlecht."

Obdachlosigkeit bedeutet Ausschluss von allem

Typisch ist sein Fall deswegen, weil der Obdachlosigkeit als Folge extremer Armut zumeist Arbeitslosigkeit voraus geht, die den Verlust von Wohnung und sozialen Kontakten nach sich ziehen kann. Ein Teufelskreislauf: Ohne festen Wohnsitz keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung. "Ein wichtiger Punkt sind auch die Hartz-IV-Reformen", sagt der stellvertretende Heimleiter, "dadurch haben viele junge Menschen miserable Bildungschancen, was den Weg in den sozialen Abstieg ebnen kann." Daher kommt auch die steigende Zahl der unter 25-Jährigen, die auf der Straße leben. Letztlich sei Obdachlosigkeit eine rigorose Form von Ausschluss: Ausschluss vom Erwerbsleben, vom sozialen Leben, von notwendigen Ressourcen und von Gesundheitsfürsorge.

Aber es gibt auch Ausnahmen, wie den 54-jährigen Joachim, der mittlerweile im Ursulaheim selbst engagiert ist. "Ich habe damals meine Frau verlassen und hatte einfach die Schnauze voll", berichtet er schonungslos ehrlich, warum er Job und Wohnung kurzerhand kündigte. "Ich hab dann beschlossen, mir mal Europa anzuschauen." Acht Jahre lang war er auf den Straßen im In- und Ausland unterwegs. Dass er an Epilepsie leidet, machte ihm dank seiner Medikamente nicht zu schaffen.

Doch schließlich fing er sich eine Grippe und eine Lungenentzündung ein und strandete im Ursulaheim. Dort richtete man ihn wieder auf. Jetzt gehört Joachim zur Belegschaft im Kälteschutz. Er weiß, dass beileibe nicht alle Obdachlosen das Angebot in Anspruch nehmen: "Die Hartgesottenen sind gut mit Schlafsack und Isomatte ausgerüstet und übernachten auch im tiefsten Winter unter der Brücke. Sie trauen niemandem."

Ziel ist immer die Wiedereingliederung

Für den Winter hat das Ursulaheim ein Konzept über bloße Akuthilfe hinaus entwickelt. Im Jahresdurchschnitt ist die Einrichtung zu 120 Prozent belegt. Vor allem in den Wochen und Monaten bei eisigen Temperaturen drängen vermehrt Hilfesuchende in den Kälteschutz. Bei einer Neuaufnahme wird zunächst abgeklärt, ob der oder die Betreffende bedürftig ist oder ob es andere Optionen gibt. Neben ambulanten Angeboten wie Übernachtungen zwischen 20 und 8 Uhr bietet das Heim auch stationäre Hilfe an. Bei der Fachberatung ist es möglich, rechtliche Fragen zu klären und sich den ALG-II-Tagessatz von knapp 12 Euro auszahlen zu lassen.

Daneben unterhält das Heim in der Stadt eine Wärmestube und eine Pflasterstube, in der Ärzte und eine Krankenschwester ehrenamtlich behandeln. Auch ambulante medizinische Hilfe ist möglich. Rund 40 stationäre Plätze stehen für Obdachlose offen, denn Ziel aller Maßnahmen ist die Wiedereingliederung. Und so stehen auch Arbeitsprojekte wie eine Schreinerei oder ein Secondhand-Kaufhaus zur Verfügung, um den Übergang in ein geregeltes Leben zu erleichtern. Im Heim selbst ist Partizipation das Schlüsselwort: Die Hausordnung wurde von Bewohnern erstellt, in allen Gremien sitzen unter anderem ehemalige Betroffene.

Rund ein Drittel der 40-köpfigen Belegschaft war ursprünglich selbst obdachlos, wie Joachim. Selbsthilfe und Selbstorganisation sind gefragt: "Wir möchten die Menschen auf Augenhöhe behandeln", betont Kiokpasoglou. Was der Belegschaft jedoch Sorgen bereitet, ist die zunehmende Anzahl von Frauen unter den Wohnungslosen.

Männer landen schneller auf der Straße, kommen aber besser zurecht

War Obdachlosigkeit einst ein klassisches Männerproblem, so ist der Anteil der Frauen mittlerweile auf 25 Prozent angestiegen. Dass aber immer noch überwiegend Männer betroffen sind, erklären die Helfer damit, dass Frauen psychisch stärker sind, besser mit Konfliktsituationen umgehen können, eine höhere Toleranz- und Frustrationsgrenze haben und sich nicht so schnell aufgeben. Doch bleiben sie ohne Wohnung, sind damit häufig spezifische Probleme verbunden: Will eine Obdachlose etwa bei einem Bekannten übernachten, steht sie häufig in einem materiellen und sexuellen Abhängigkeitsverhältnis. Kommt es zu Situationen, in denen rohe Gewalt dominiert, sind Frauen oft hilfloser. Generell landen Männer statistisch gesehen schneller auf der Straße, kommen dort mit den brutalen Gegebenheiten aber besser zurecht.

In den ohnehin beengten Räumlichkeiten im Ursulaheim führt der verstärkte Frauenanteil zu Platzproblemen, da die Geschlechter bei Übernachtungen getrennt werden müssen. Immer wieder lodern Konflikte zwischen unterschiedlichen Charakteren hinzu. Für beides gibt es keine Patentlösung, nur den Einsatz der Mitarbeiter.

Mehr Geld von der Politik einfordern? "Fast aussichtslos", meint Kiokpasoglou, "an solchen Projekten wird zuerst gespart." Um weibliche Betroffene kümmert sich im Heim eine spezielle Frauenbeauftragte. Am Eingang des Hauses hängt dabei ein großes programmatisches Plakat mit einer Obdachlosen, das an die Mitbürger appellieren soll: "Ein Lächeln erfreut jeden. Auch mich."


Marijana Babic ist freie Journalistin.