Der November ist der Trauermonat: Allerheiligen, Volkstrauertag, Ewigkeitssonntag. Wer einen Angehörigen verloren hat - und sei das schon Monate oder Jahre her - spürt gerade in dieser kalten und dunklen Jahreszeit den Verlust wieder besonders schmerzlich. Welche Rolle spielt Musik bei der Verarbeitung von Verlust und Trauer? Warum ist eine Beerdigung ohne Musik kaum vorstellbar? Eine Sängerin und ein Musikwissenschaftler versuchen, die Beziehung zwischen Musik und Trauer zu beschreiben.
Njeri Weth veranstaltet "Trostkonzerte". Foto: Wolfgang Bauer
Die Sängerin und Komponistin Njeri Weth aus Spangenberg (Nordhessen) versucht, mit ihrer Musik Trauernden beim Trauern zu helfen. Weth studierte Operngesang, lernte erst danach die Vielfalt der protestantischen geistlichen Musik kennen. Sie hatte nie die Intention, Songwriterin zu werden. Doch während der Arbeit in der offenen Sozialarbeit in Düsseldorf merkte sie, dass ihr Lieder fehlen. Lieder, die zu ihr passen - und zu Menschen, die schmerzliche Verluste erlebt haben: "Ich singe für Menschen, die durch die tiefsten Tiefen gehen. Die Menschen brauchen dringend diese Lieder", deswegen begann sie, selbst zu texten und zu komponieren.
Am 1. November 2004 veranstaltete Njeri Weth auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof zusammen mit zwei Notfallseelsorgern zwei Andachten. Die Gäste waren Trauernde: "Wir haben die Leute einfach vom Friedhof gepflückt", erzählt Weth. Im Jahr darauf gab es schon vier solche Andachten, im Jahr danach zehn, und mittlerweile hat sich das Angebot weiterentwickelt zu so genannten "Trostkonzerten" mit fester Liturgie.
Psychohygiene: Abfließen lassen, was sich aufgestaut hat
Sie beginnt mit dem "Klageruf", angelehnt an biblische Psalmen. Dann folgen Lieder und lyrische Lesungen, die das "Sich ausstrecken nach Gott, nach einem Gott, der tröstet, das Suchen, sich Hinwenden" ausdrücken sollen. Anschließend kommt die Phase des Erinnerns: Die Konzertbesucher zünden Kerzen an, hören die Namen der Verstorbenen. "Ich öffne einen Raum, in dem es okay ist, sich selbst zu begegnen mit seiner Trauer" erklärt die Sängerin, "Eine Psychologin nannte das 'Psychohygiene', weil etwas abfließen kann, was sich seit langer Zeit aufgestaut hat. Man kann loslassen und weiter in seiner Trauerarbeit voran kommen." Am Ende singt sie Hoffnungslieder, ganz am Schluss steht der Segen.
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Die Musik wirkt offenbar heilsam. "Ich merke das gerade bei den verwaisten Eltern", erzählt Njeri Weth. "Ein Vater hat mir mal gesagt: Es tat so weh, wieder an diesen Punkt ran zu müssen, aber es tat so gut mal wieder weinen zu dürfen" Im Alltag müssten Trauernde ihre Traurigkeit ja oft verdrängen - die Trostkonzerte seien ein Ort, wo den Menschen mit Zuwendung, mit Herzlichkeit, mit Liebe begegnet werde. Njeri Weth: "Die spüren, dass wir das ernst meinen, dass wir sagen: Bringt euren Schmerz zu Gott." Eingeladen werden Angehörige von Verstorbenen und von Sterbenden, Hospizmitarbeiter, verwaiste Eltern und Menschen, die sich durch dieses Angebot angesprochen fühlen.
"Die Musik ist, glaube ich, schon über Jahrhunderte unsere Möglichkeit, etwas in uns in Schwingungen zu bringen, was letztlich nur durch diese Vibration der Instrumente, der Stimmen, der Schwingungen funktioniert." Was Njeri Weth intuitiv erfasst und mit ihren Trostkonzerten umsetzt, hat Heiner Gembris, Professor für empirische und psychologische Musikpädagogik an der Universität Paderborn, erforscht. Er beschäftigt sich allgemein mit Wirkungen von Musik und hat unter anderem eine Studie speziell zur "Bedeutung und Funktion von Musik bei Begräbnissen" verfasst.
Zwei Funktionen: Gefühle ausdrücken oder verdrängen
"Ganz allgemein kann man sagen, dass Musik Trostfunktion ausübt", erklärt Gembris, "beispielsweise, dass Musik die Stimmung aufnimmt und man sich verstanden fühlt. Trost kann auch darin bestehen, dass Musik mich in eine bessere Stimmung versetzt. Sie kann mich auch spirituell trösten, wenn sie transzendenten Inhalt hat." Gembris hat Menschen gebeten, Musik zu beschreiben, die sie in besonders traurigen Situationen hören würden. Die einen entschieden sich für langsame, weiche, gefühlvolle, beruhigende Musik - sie wollten ihre Gefühle zum Ausdruck bringen. Die anderen hatten genau das Gegenteil im Sinn: Verdrängen. Sie entschieden sich für besonders schnelle, aggressive, erregende Musik, die sie in eine Art Rauschzustand versetzen soll.
Heiner Gembris ist Professor für empirische und psychologische Musikpädagogik. Er hat unter anderem untersucht, welche Bedeutung und Funktion Musik bei Begräbnissen hat. Foto: Eva-Maria Gembris
Eine weitere aufschlussreiche Übung in Gembris' Studie: Menschen verschiedenen Alters wurden gebeten, sich Musik für ihre eigene Beerdigung auszusuchen. Das Ergebnis: "Knapp die Hälfte der Befragten wünscht zur eigenen Beerdigung Klassische oder Geistliche Musik, besonders die Älteren. Geistliche Musik wird von denen bevorzugt, die besonders religiös sind, allerdings nur von einem kleineren Teil. Fast 40 Prozent wünschen sich Pop- bzw. Rockmusik in ihren verschiedensten Varianten. Das gilt vor allem für die Jüngeren, weniger für die Älteren."
"Grundsätzlich kann wahrscheinlich jede Art von Musik zur Trauerbewältigung dienen, wenn es für den Rezipienten die 'passende' ist", erklärt Gembris. Christliche Musik zum Beispiel sei "für einen Muslim vielleicht nicht so hilfreich wie für einen evangelischen Christenmenschen." Bei der Auswahl von Musik - sei es für eine Beerdigung oder eine andere Gelegenheit - müsse das "gesamte System von Musik, Zuhörern und Situation" zusammen passen. Ein Beispiel: "Wenn Sie 'Stille Nacht, Heilige Nacht' in der Kirche oder bei einer Weihnachtsfeier zu Hause hören, dann kann es sein, dass es Sie zu Tränen rührt. Wenn Sie das in den Sommerferien oder zu Ostern hören, dann können Sie darüber nur grinsen."
"Das Gefühl, nicht allein zu sein"
Im Falle einer Beerdigung sollte die Musik zum Anlass, zu den Zuhörern und auch zum Verstorbenen selbst passen. Denn sie übt verschiedene Funktionen aus: Die Befragten in Gembris' Studie nannten vor allem die Erinnerung an die verstorbene Person, doch "genauso wichtig ist die Wirkung der Musik als Trost und Vermittlerin von Hoffnung." Eine weitere Äußerung der Befragten: Musik solle "vermitteln, dass es nicht nur den Tod gibt, dass es noch viele schöne Dinge auf dieser Welt gibt."
Der Wissenschaftler erklärt die psychologische Wirkung von Musik so: "Abstrakte Konzepte wie Trost, Hoffnung und Bedeutung werden durch Musik konkret und erfahrbar. (…) Musik synchronisiert die Gefühle und die Aufmerksamkeit ihrer Hörer, sie kanalisiert die Emotionen in eine gemeinsame Richtung, die von allen geteilt und miterlebt wird. Dadurch entstehen Gefühle der Verbundenheit und Gemeinschaft, das Gefühl, nicht allein zu sein, was tröstlich ist."
Njeri Weth geht noch einen Schritt weiter. "Wenn ich singe, bete ich die ganze Zeit dabei", so bringt sie das auf den Punkt, was Heiner Gembris wohl, wissenschaftlich ausgedrückt, 'transzendental' nennen würde. "Das heißt nicht, dass ich die ganze Zeit ein Gebet runterrattere", erklärt Weth, "sondern meine innere Haltung ist eine Gebetshaltung. Das lege ich in meinen Gesang und versuche die Menschen zu segnen." Die Zuhörer fühlen sich tatsächlich getröstet, gesegnet, erleichtert. Offenbar ist Musik ein geeignetes Medium für die Trauerarbeit. Ohne Musik geht es jedenfalls nicht, das meint auch Heiner Gembris: "Eine Trauerfeier ohne Musik, das ist sehr unvollständig, wie ein Himmel ohne Sterne. "
Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.