"Unser Dasein ist oftmals ein Balanceakt"

"Unser Dasein ist oftmals ein Balanceakt"
Freddy Nock ist dieser Tage unterwegs auf einer Rekord-Jagd über das Hochseil. Der Schweizer gilt als weltbester Seilläufer. Der Artist wird jedoch nicht nur für seine Weltrekorde bewundert, sondern auch für sein soziales Engagement.
02.09.2011
Von Vera Rüttimann

"Ein Schritt nach dem anderen." Dieser Satz ist das persönliche Mantra von Freddy Nock, der an diesem Augustmorgen über das nur wenige Zentimeter dicke Drahtseil zur Zugspitze hochläuft. Unter ihm geht es gut 3.000 Meter senkrecht in die Tiefe. Der 46-Jährige läuft mit dünnen Sportschuhen über das Seil. Katzengleich, schnell und ohne Balancierstange. Immer wieder ringt er in der dünnen Luft nach Atem. Unwirklich leicht sieht das aus. Nur die angespannten Kiefermuskeln und der hochkonzentrierte Blick lassen erahnen, dass dies kein normaler Spaziergang ist. Ein Fehltritt, ein Windstoß oder ein Krampf und es ist aus. Freddy Nock aber schafft es zum Ziel.

Nach dem Start seiner Rekordjagd am 21. August auf der Zugspitze überquerte er in den vergangenen Tagen weitere Hochseile in drei Ländern, die ihn unter anderem über den Thunersee und zum Gipfel des Corwatsch im Engadin führten. Ob talabwärts, rückwärts oder auf dem Fahrrad: Nichts scheint für Freddy Nock unmöglich auf dem Seil. Stets läuft er ungesichert. Ein Verrückter, sagen Kritiker. Einem Vogel, entgegnet Nock, würde man auch keine Leinen anlegen.

Mit der Kraft eines Bären

Wer ist dieser Freddy Nock? Das Seillaufen liegt dem Artisten mit der Figur eines Balletttänzers im Blut. Der Mann mit den vielen Lachfalten im Gesicht stammt aus einer alten Schweizer Zirkusdynastie. Seit 1770 laufen die Nock-Artisten über das Seil. Im Zirkus seines Großvaters machte Freddy Nock mit vier Jahren schon seine ersten Schritte auf Nylonknoten. Mit einer Nummer, in der er auf einem Seil einen Löwenkäfig überquerte, wurde er früh zum Star.

Abgestürzt ist Freddy Nock nie, doch unfreiwillige Bekanntschaft mit dem Tod machte er schon einmal. Freddy Nock erinnert sich: "Ich spielte draußen vor dem Zelt, als einer rief: 'Achtung, ein Bär!' Ich kroch schnell unter den Wagen, doch das Tier biss mich in den Kopf. Im Spital wäre ich fast gestorben. Seit diesem Tag aber spüre ich die Kraft eines Bären in mir." Diese mentale Kraft könnte eine Erklärung sein, warum Freddy Nock seine Höchstleistungen gelingen, die er als Seilläufer seit einiger Zeit aufstellt. Doch das allein ist es nicht.

Schutzengel, Glücksbringer, Rituale

Lebensversichert ist Freddy Nock nicht. "Wozu auch?", fragt er lakonisch. Der mehrfache Familienvater ist überzeugt, sein Leben nicht unnötig aufs Spiel zu setzen. Nock vertraut seinen Fähigkeiten zu hundert Prozent. Seine Fangtechniken übt er jeden Tag zu Hause in einem aargauischen Dorf. Angst kennt er nicht, Respekt schon. Unwohl sei ihm nur beim Fliegen, weil er das nicht selbst kontrollieren könne.

Seine auffallende innere Ruhe, die er auf andere ausstrahlt, rühren nicht nur von seinem virtuosen Umgang mit der Balancierstange, sondern auch von seinem tiefen Glauben. Wie viele Artisten hat auch Freddy Nock (Foto l.: Vera Rüttimann) einen speziellen Bezug zum Glauben. Katholisch erzogen, geht er zwar kaum zur Kirche. Das ist typisch für seine Szene: "Die Kirche beschimpfte das Zirkus-Volk lange als Zigeuner, Herumtreiber und Randständige. Da ist in uns etwas hängen geblieben."

Dafür sind Amulette, Glücksbringer und religiöse Symbole in seiner Welt von großer Bedeutung. Auf seiner Brust tanzen ein Kruzifix und ein Marienanhänger. Freddy Nock pflegt zudem seine eigenen Rituale: Vor jedem Gang aufs Hochseil bekreuzigt er sich dreimal und klopft sich dreimal ab. Und er glaubt an seine Schutzengel, wovon er reichlich haben muss. Die stete Konfrontation mit dem Tod auf dem Seil habe sein Glaube an Gott verstärkt, betont er.

Diese Kraft braucht er oftmals auch am Boden. Abseits von Glamour und Spotlights geht es bei Artisten wie ihm oft um Themen wie Identitätsfindung, Nachdenken über das Anders-Sein und die Frage: Hat man das Recht, das Leben so aufs Spiel zu setzen? Auch die Einsamkeit, die ein Leben unterwegs mit sich bringen kann, ist Freddy Nock nicht unbekannt.

Poet, Weltendeuter, Grenzgänger

Freddy Nock fasziniert die Menschen. Das liegt wohl auch am Seillauf selbst, der unter Artisten als Königsdisziplin gilt. Freddy Nock sieht sich in der Tradition jener Seiltänzer, die sich als Philosophen, Künstler und Poeten verstanden - gesellschaftliche Grenzgänger, wie etwa der Franzose Philippe Petit, der 1974 mit seinem illegalen Seillauf zwischen den New Yorker Twin Towers die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft sprengte. Achtmal überquerte Petit den Abgrund und kniete und legte sich dabei auf das Seil.

Das "künstlerische Verbrechen des Jahrhunderts", wie es der amerikanische Schriftsteller Paul Auster damals nannte, inspirierte auch den jungen Freddy Nock. Die Kunst der Überwindung des Unmöglichen. "Der Seillauf ist eine Metapher für das Leben. Unser Dasein ist oftmals ein Balanceakt", hat er erkannt. In spiritueller Hinsicht ist der Seillauf für ihn eine Art Himmelsmeditation, ein trance-ähnlicher Zustand, in den er sich, wenn auch hochkonzentriert, auf dem Seil versenkt.

Für ihn sind es "Momente tiefer innerer Ruhe." Ähnlich wie Philippe Petit geht es Nock nicht um die reine Rekordjagt, sondern um schöne Orte, die er in beinahe anarchistischer Manier für sich erobert. Wie sein Vorbild Philip Petit bringt der Schweizer Kindern in Schulen die Kunst des Seillaufens bei, "Slackline" heißt heute die moderne Variante. Der Schweizer hält auch Seminare zum Thema "Höhenangst" oder "Ängste überwinden".

Selbstloser Helfer

Freddy Nock hat eine ausgeprägte soziale Ader. Als er 2009 erstmals auf die Zugspitze lief, tat er dies zugunsten von Karlheinz Böhms Stiftung "Menschen für Menschen". Der Artist sagt: "Ich will den Menschen etwas von dem Glück zurück geben, das ich in meinem Leben reichlich habe." Das Geld seiner aktuellen Rekordtour kommt der Unesco-Stiftung "Bildung für Kinder in Not" zugute. Nock hofft, dass er 70.000 Franken für sein Projekt "Kinder und Sport in Bangladesch" sammeln kann.

In Asien genießt der Schweizer Artist übrigens Kultstatus. Bei der Hochseilweltmeisterschaft in Seoul vor einigen Jahren lief er über den Han River schnurstracks einem neuen Weltrekord entgegen, als zwei seiner Konkurrenten auf halber Strecke in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten, unter ihnen ein reißender Fluss. Einer verlor sogar seine Balancierstange. Beide konnten sich an Freddy Nocks Schultern klammern und wurden so vor dem Tod gerettet. Dieser Vorfall haben Freddy Nock viel Ehre eingebracht und, das ist ihm wichtiger, seinen Glauben noch gestärkt. Er möchte weiterhin ein Ikarus sein, der zur Sonne fliegt, aber ohne sich die Flügel zu verbrennen.


Vera Rüttimann ist freie Journalistin in Berlin und in der Schweiz.