Dalit: Die ärmsten Inder sind noch immer "unberührbar"

Dalit: Die ärmsten Inder sind noch immer "unberührbar"
Dalit, die Ärmsten der vielen Armen Indiens, sind die Kaste, die einstmals "Unberührbare" genannt wurden. Die semantische Änderung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dalit auch Jahrzehnte nach der offiziellen Abschaffung des rigiden indischen Kastenwesens für die höheren Kasten noch immer "unberührbar" sind. Auch wenn inzwischen Dalit in höchste staatliche Positionen aufsteigen können.
29.07.2011
Von Michael Lenz

Wenn die Volksvertreter nicht das Volk vertreten, dann bekommen sie Besuch: vom Volk. Genau das hatten Indiens christliche und muslimische Dalit an diesem Donnerstag mit ihrem Protestmarsch zum Parlament in Neu Delhi im Sinn. Ihre Forderung: ihre Anerkennung als "gelistete Kaste". Nur "scheduled casts" haben laut der indischen Verfassung Anspruch auf wirtschaftliche, soziale und politische Förderprogramme.

Indiens Kasten bestehen aus tausenden Unterkasten. Das ist bei den Dalit nicht anders. Die Unterteilung in hinduistische und nicht-hinduistische Dalit ist dabei nur die gröbste, wenn auch diejenige, gegen die christlichen und muslimischen Dalit in dieser Woche mit einem Hungerstreik und dem Protestmarsch demonstrieren.

Unterdrückung als Alltagserfahrung

Kurios anmutende, aber auch grausame Beispiele für die alltägliche Diskriminierung der 160 Millionen Dalit - 16 Prozent der indischen Bevölkerung - gibt es zuhauf. So ließ vor wenigen Jahren der neue oberste Richter Indiens, ein Angehöriger der Kaste der Brahmanen, das Büro ausräuchern, das er von seinem Dalit-Vorgänger übernommen hatte. Im Mai dieses Jahres hinderten Kastenhindus in einem Dorf in Tamil Nadu ihre Dalit-Nachbarn gewaltsam an der Nutzung des einzigen Wassertanks im Dorf. Anoop Kumar, ein Dalit-Bürgerrechtsaktivist, hat die hohe Zahl von Selbstmorden von Dalit-Studenten an den Hochschulen Indiens dokumentiert.

Zu den "gelisteten Kasten" gehörten nach der Einführung in den 1930er Jahren zunächst nur die hinduistischen Dalit. Später erhielten Dalit-Anhänger des Buddhismus und Sikhismus den begehrten Status, der wirtschaftliche Vorteile und die Aufnahme in Quotensysteme bei Parlamentssitzen und Jobs bringt. Christen und Muslimen aber bleibt der Status aber bis heute verwehrt. "Da kann man schon von einem System der religiösen Unterdrückung sprechen", sagte Pater Cosmon Arokiaraj, Exekutivsekretär der katholischen Bischofskommission für Dalit. Die Bischofskonferenz sowie der protestantische Nationale Rat der Kirchen Indiens sind die Organisatoren des Protestes der Dalit in Neu Delhi.

Politiker aller Parteien haben bisher wenig Enthusiasmus bei der Abschaffung der systematischen Unterdrückung der christlichen und muslimischen Dalit gezeigt. Man will es sich ja nicht mit der konservativen, kastenbewussten Hinduwählerschaft verderben. In einigen Teilen Indiens kommt es zudem immer wieder zu kastenübergreifender Gewalt zwischen den Religionsgruppen. Gewaltwellen in indischen Bundesstaaten wie Orissa, Gujarat oder auch in der Metropole Mumbai haben in den letzten Jahrzehnten tausende Tote gefordert.

Die Dalit-Frauen aus dem Dorf Chamaranpurwa wandern durch fruchtbares Land. Aber ihnen gehört davon nichts. Sie sind bitterarm und leben von der Hand in den Mund. Foto: Lenz

Joachim von Kölichen, Pfarrer der deutschsprachige protestantischen Gemeinden in Nordindien, mag aber nicht von einer systematischen Diskriminierung von Minderheitsreligionen in Indien sprechen. "Die Wasseroberfläche ist nicht brodelnd, aber immer kommt mal eine Blase nach oben", beschreibt er die Situation. "Religion dienen oft als Vorwand, um Leute zu politischen Zwecken zu mobilisieren." Pater Cedric Prakash, Direktor des jesuitischen Zentrums für Menschenrechte in Ahmedabad, macht die nationalistische Hindupartei Bharatiya Janata und die hindu-fundamentalistische Hindutva-Bewegung für die Konflikte verantwortlich.

Norwegischer Attentäter erwähnt Hindutva

Der politische Hinduismus taucht im Übrigen auch im Zusammenhang mit den schrecklichen Anschlägen von Norwegen auf. Der Attentäter Anders B. hatte in seinem kruden 1.500-seitigen Manifest die extremistische Hindutva aufgerufen, sich mit den Juden Israels und den chinesischen Buddhisten im Kampf gegen die Ausbreitung des Islam in Europa zu verbünden. Sprecher der Bewegung in Indien distanzierten sich nur lau von dem Mörder. Ein Abgeordneter der BJP sagte gar, die Ideen des Massenmörders seien nicht verkehrt, nur deren Umsetzung sei falsch gewesen.

"Die meisten Fälle antireligiöser Gewalt gegen Chrisen als auch Muslime sind Teil eines größeren Plans rechtsgerichteter Hindufundamentalisten", unterstreicht Pater Prakash. "Für deren spalterischen Ziele ist es wichtig, Minderheiten als bedrohlichen Buhmann darzustellen." Prakash betont aber auch, dass es im laut Verfassung säkularen Indien "generell ein hohes Maß der religiösen Toleranz" gebe.

Für die Inder gehört Religionsvielfalt seit Jahrtausenden zum Alltag, ist doch der Subkontinent der Geburtsort großer Religionen wie des Hinduismus, des Buddhismus, des Jainismus und des Sikhismus. Seit über 1.000 Jahren sind zudem auch das Judentum, der Islam, das Christentum und der Zoroastrismus in Indien verbreitet. In jüngster Zeit aber lässt die religiöse Toleranz der Inder nach. Seit den Attentaten islamischer Terroristen in Mumbai werden Muslime immer wieder Opfer willkürlicher Anwendung von Antiterrorgesetzen, warnt die Menschenrechtsorganisation "Minority Rights Group International". Christen gerieten zunehmend ins Visier von Hinduextremisten. "Christen in Indien werden bedroht, eingeschüchtert und zwangsweise zum Hinduismus konvertiert", heißt es in einem Report der Organisation.

Aggessive Mission durch Evangelikale

Hindus ihrerseits klagen immer lauter über die erzwungene Konvertierung ihrer Glaubensbrüder und -schwestern zum Christentum. Es sind vor allem evangelikale Gruppen US-amerikanischer Prägung, die in Indien aggressiv missionieren, wie von Kölichen weiß. Deshalb gibt es in vielen indischen Bundesstaaten inzwischen Gesetze gegen Zwangskonvertierungen. Der Supreme Court in Neu Delhi hatte erst Ende Februar eine Klage gegen diese Gesetze abgelehnt. Indiens Verfassung garantiere das Recht auf Religionsfreiheit, so die Richter, nicht aber ein uneingeschränktes Recht zur Konvertierung anderer. Die Antikonvertierungsgesetze stehen nicht zuletzt ihrer willkürlichen Anwendung wegen in der internationalen Kritik. Diese Gesetze dienten in manchen Fällen gar zur Rechtfertigung religiös orientierter Gewalt, heißt es im jüngsten Bericht des US-Außenministeriums über Religionsfreiheit in Indien.

Die landlosen christlichen und muslimischen Dalit, aber auch ihre hinduistischen Kastenbrüder, haben im Alltag zunächst aber andere Sorgen. Sie leben in armseligen Dörfern im ländlichen Indien. Sie besitzen nichts. Ihnen gehört nicht einmal das Fleckchen, auf dem ihre Hütten stehen und auf dem sie etwas Gemüse für den Eigenbedarf anbauen. Als Landarbeiter verdienen sie in landwirtschaftlich geprägten Bundesstaaten wie Bihar 25 Rupien (42 Cent) am Tag. Und das auch nur in den drei Monaten im Jahr, in denen Landarbeiter für die Bestellung der Felder und die Ernte der Kastenhindus gebraucht werden.

Wer keine Arbeit hat, zieht in als Wanderarbeiter in die Stadt oder nimmt Kredite zu Wucherzinsen auf. "Sie sind hier alle hochverschuldet", sagt Xavier Thomas, ein indischer Christ, der in Bihar als Projektleiter für die Hilfsorganisation ADRA Deutschland e. V. arbeitet. Thomas sieht in der Landlosigkeit das Grundproblem der Armut der Dalit, das durch eine umfassende Landreform gelöst werden könnte. "Aber das ist nicht zu erwarten. Selbst Ansätze von Landreformen verpuffen, weil sie nicht umgesetzt werden," sagt Thomas und fügt kritisch hinzu: "Wem gehört die Regierung? Den Reichen und Mächtigen."

Anfällig für maoistische Rebellen?

Soziale Ungerechtigkeit und wirtschaftliche Ausbeutung machen die Dalit, unter ihnen besonders die "ungelisteten", anfällig für die Parolen der Naxaliten, einer maoistischen Guerillabewegung, die seit einigen Jahrzehnten einen bewaffneten Kampf gegen die indische Regierung führt und als das größte innenpolitische Sicherheitsrisiko Indiens gelten.

Im Dorf Baidanpurwa lebt Yoshadhara. Die mehrfache Großmutter ist so bitterarm wie es die Dalit sind, gehört aber einer Hindu-Kaste an. In Sichtweite ihrer Hütte liegt das winzige Dalit-Dorf Chamaranpurwa. Auf die Frage, ob sie von den Dalit Nahrungsmittel annehmen würde, antwortet sie nach kurzem Zögern: "Gekochtes Essen auf keinen Fall." Das Kastenwesen bleibt für Nicht-Inder ein Buch mit mehr als sieben Siegeln.


Michael Lenz arbeitet als freier Journalist in Südostasien und schreibt regelmäßig für evangelisch.de.