Neben die riesige Gefängnismauer geduckt liegt er da: ein flacher harmlos wirkender Ziegelbau. Mit zwei türlosen, dunklen Eingangslöchern. Jenseits der hohen Mauer im Hintergrund, in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Plötzensee, sitzen auch heute noch Häftlinge. Einer Todesstrafe muss keiner von ihnen mehr entgegensehen. Die heutigen Insassen sind vor allem Jugendliche, um deren Resozialisierung man sich bemüht.
"Resozialisierung" – dieses Wort existierte nicht im Strafvollzug der Nazis. Ab 1933 ging es in Gefängnissen wie Plötzensee nur noch um Vergeltung, Abschreckung und "Ausmerzung" von angeblich Minderwertigen. "Ausgemerzt" werden sollten vor allem die Gegner des NS-Staates. Und das geschah hier – in der Todesbaracke von Plötzensee.
Die Guillotine von Plötzensee (Foto: akg-images/Ria Nowosti)
Wie Schlachtvieh aufgehängt
Wer eintritt, steht auf nacktem Beton in einem kahlen quadratischen Raum. Von gegenüber dringt durch zwei Rundbogenfenster Licht herein. Darunter sind Blumen und Kränze niedergelegt. Oberhalb der Fenster zerschneidet horizontal ein schwarzer Stahlbalken den Raum. An ihm hängen fünf Fleischerhaken.
An diesen Haken hingen die Galgenstricke, mit denen die Mitverschwörer des 20. Juli 1944 zu Tode stranguliert wurden – aufgehängt wie Schlachtvieh. Um sie noch mehr zu erniedrigen, hatte man ihnen die Hosen heruntergezogen. Wer beim Abhängen noch nicht tot war, wurde nochmal aufgehängt. Als am 8. August 1944 die abgeurteilten Verschwörer – unter ihnen Generalfeldmarschall von Witzleben – hingerichtet wurden, geschah das in grellem Scheinwerferlicht und vor laufender Kamera. Adolf Hitler ließ sich die Aufnahmen noch in der Nacht ins Führerhauptquartier fliegen und soll sich mehrfach am qualvollen Tod seiner Gegner ergötzt haben.
Hinrichtungen wie am Fließband
Die gleiche Todesart erlitten zwischen 1942 und 1945 auch die anderen Hitlergegner, die in Plötzensee hingerichtet wurden. Unter ihnen waren Carl Goerdeler, die Widerständler der "Roten Kapelle" und des Kreisauer Kreises um Helmuth James von Moltke sowie andere christliche Oppositionelle wie Elisabeth von Thadden. Viele saßen bis kurz vor dem Tod in anderen Gefängnissen ein, Moltke beispielsweise im nur wenige Kilometer entfernten Tegel.
Helmut James von Moltke als Student (Foto: GDW)
In den Jahren zwischen dem Bau des Gefängnisses Plötzensee 1890 und dem Beginn der Naziherrschaft 1933 war hier durchschnittlich eine Person pro Jahr hingerichtet worden – mit dem Handbeil. In den darauf folgenden zwölf Jahren des Hitlerregimes wurden jedoch 2.891 Menschen hier ermordet: geköpft, guillotiniert oder schmählich erhängt. Im September 1943 waren es sogar einmal 186 Menschen in einer einzigen Nacht. Die Hälfte der Todesopfer in diesen Jahren waren ausländische Widerstandskämpfer, vor allem Tschechen, aber auch Polen, Franzosen und viele andere.
Der "Plötzenseer Totentanz"
Das Handbeil, die Guillotine, die Fleischerhaken – sie sind heute auch 20 Gehminuten von der Gedenkstätte entfernt zu finden: auf dem monumentalen "Plötzenseer Totentanz" des Wiener Künstlers Alfred Hrdlicka. Für das neu errichtete evangelische Gemeindezentrum Plötzensee gestaltete er 1969 bis 1972 riesige Bildtafeln, die das Grauen der benachbarten Todesbaracke in die Gegenwart übersetzen.
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Zum Beispiel auf der Bildtafel "Tod eines Demonstranten": Gepanzerte Polizisten zerren einen jungen Demonstranten aus der protestierenden Menge heraus, reißen seine Füße in die Luft und prügeln mit Schlagstöcken auf den Wehrlosen ein. Wo Hrdlicka möglicherweise an den Tod des Studenten Benno Ohnesorg 1967 anspielte, denkt der Betrachter im Jahre 2011 unwillkürlich an aktuelle Ereignisse in Ägypten oder Syrien.
Oben über der Szene zieht sich der Plötzenseer Balken mit den Fleischerhaken entlang. Dieses Motiv verbindet alle 16 Bildtafeln, die auf die vier Betonwände des gefängnisartigen Kirchenraumes verteilt sind: "Kain und Abel", "Tod im Boxring", "Tod im Showbusiness", "Die Enthauptung des Täufers", "Massenerhängung in Plötzensee" und eine Golgatha-Szene, die Hrdlicka in die Berliner Todesbaracke verlegt hat: Die Handgelenke von Christus und den beiden Schächern sind von den Fleischerhaken durchbohrt.
Mitten im Todesreigen eine Lichtgestalt
"Alfred Hrdlicka wollte zeigen, dass der Tod nicht von jenseits kommt, sondern dass der Mensch dem Menschen den Tod bringt", erklärt der evangelische Ortspfarrer Michael Maillard. "Diese vielen Todesbilder waren der Gemeinde damals aber zu düster. Sie bat um ein Hoffnungsbild als Gegengewicht."
Der Künstler ließ sich darauf ein und so entstand das Emmaus-Bild, einem Kunsthistoriker zufolge die "eindrucksvollste Auferstehungsdarstellung in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts": Hier ist die Todesbaracke Schauplatz einer stillen Versammlung von Häftlingen, denen eine zugewandte Lichtgestalt das Brot des Lebens austeilt.
Hrdlickas Gemälde mit dem Titel "Emmaus, Auferstehung, Ostern" (Foto: Martin Rothe/Alfred Hrdlicka).
Die schwebende Märtyrerkirche der Katholiken
Buchstäblich überirdisches Licht durchflutet die nur wenige Hausnummern entfernte Nachbarkirche "Maria Regina Martyrum". Sie wurde aus Kollekten des Katholikentages 1958 erbaut als "Gedächtniskirche der deutschen Katholiken zu Ehren der Blutzeugen für Glaubens- und Gewissensfreiheit" in der Nazizeit.
Auch dieser Kirchenbau beeindruckt durch seine moderne symbolgeladene Formsprache. Der rechteckig ummauerte Hof mit seinem grauen Plaster gleicht dem Appellplatz eines Konzentrationslagers. Doch in dieser Zone des Todes ereignet sich ein Wunder: Von rechts oben schwebt ein volumniöser weißer Quader in den Hof: die Oberkirche. Tatsächlich schwebt sie in einigen Metern Höhe. Man kann unter ihr hindurch gehen. Das Kirchenschiff ruht lediglich auf einigen wenigen Betonmauern zu beiden Seiten. Die Mauern an der linken Seite umschließen eine kleine Unterkirche, in der sich Gedenkplatten für die katholischen Märtyrer befinden – vor einer modernen Pietà der Schmerzensmutter Maria.
Jugendliche empfänglich für Symbolsprache der Gedenkkirchen
33 steile Stufen höher, im hohen, rechteckigen Schiff der Oberkirche, fällt der Blick sofort auf ein riesiges Altargemälde. Der Künstler Georg Meistermann setzte sich hier mit der Vorstellung auseinander, was ihm geschehe, wenn man ihm mitteile: "Morgen früh um fünf wirst du gehenkt!" Meistermann gibt eine sehr expressive Antwort: Inmitten des schwarzen Grauens zerreißt seine Welt in einen Strudel von Farben und gibt den Blick frei auf das gekrönte Gotteslamm. "Gott hat das letzte Wort", interpretiert Schwester Miriam vom hier ansässigen Karmelitinnen-Orden das Bild. "Gott will nicht Vernichtung, sondern Leben."
Als Kirchenführerin hat Schwester Miriam die Erfahrung gemacht, dass gerade Jugendliche sehr ansprechbar sind für die symbolgeladene Kunst und Architektur. Ihr evangelischer Nachbar Pfarrer Maillard stimmt dem zu: "Unsere Plötzenseer Kirchen sind einzigartige Orte. Hier gibt es die einmalige Verbindung von Gedenkort und Gemeindeleben. Schulklassen können sich einmal außerhalb ihrer Klassenräume anhand unserer Wandbilder mit dem Nationalsozialismus und dem Widerstand auseinandersetzen." Gemeinsam mit den Katholiken hat Pfarrer Maillards Gemeinde den Verein "Ökumenisches Gedenkzentrum Plötzensee" ins Leben gerufen, der regelmäßig Projekttage für Jugendliche und Vortragsabende zum Thema "Christen und Widerstand" veranstaltet.
Jährlich Gottesdienst mit den Familien der Märtyrer
Gern würde Maillard die Gedenkarbeit intensivieren und pädagogische Konzepte ausarbeiten lassen. Doch die Kapazitäten der evangelischen Kirchengemeinde werden immer geringer. Das sie umgebende Paul-Hertz-Viertel in Charlottenburg-Nord ist zu einem sozialen Brennpunkt geworden. "Bildungsnahe", engagierte und finanzkräftige Familien gibt es vor Ort immer weniger. "Ich würde mir wünschen", sagt der Pfarrer, "dass auch die Gesamtkirche erkennt, was für eine wichtige Gedenkregion hier ist und sich für deren Ausbau einsetzt."
Eine wichtige Gelegenheit bietet da der alljährliche Gottesdienst am 20. Juli in der Gedenkstätte Plötzensee. Anwesend sind dabei immer auch überlebende Angehörige der Widerstandskämpfer – keine 20 Meter entfernt von dem Ort, an dem ihre Lieben ermordet wurden. Was mag ihnen die Kraft geben, immer wieder an diesen Ort des Grauens zurückzukehren, immer wieder zu erzählen, wofür ihre Lieben den Tod in Kauf nahmen?
Vielleicht gilt auch für sie, was Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis in Tegel schrieb: "Wer hält stand? Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf. Wo sind diese Verantwortlichen?"
Besichtigungen:
- Gedenkstätte Plötzensee mit Hinrichtungsschuppen und Ausstellungsraum: Hüttigpfad; täglich von 9 bis 17 Uhr geöffnet (Winterhalbjahr bis 16 Uhr); Eintritt frei, keine Führungen.
- Katholische Gedenkkirche mit Klosterladen: Heckerdamm 230; tagsüber geöffnet; Führungen möglich.
- Evangelisches Gemeindezentrum Plötzensee mit "Totentanz" von Alfred Hrdlicka: Heckerdamm 226; außerhalb der Gottesdienste geöffnet donnerstags 16-18 Uhr und nach Vereinbarung.
- Evangelische Sühne-Christi-Kirche mit Gedenkmauer: Toeplerstr. 3 / Ecke Halemweg; Besichtigung nach Vereinbarung.
- Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Berliner Bendlerblock: Stauffenbergstraße 13-14, umfangreiche Ausstellung zu allen Widerstandsgruppen, täglich 10-18 Uhr geöffnet; Eintritt frei.
Martin Rothe ist freier Journalist, hat unter anderem Religionsgeschichte studiert und die Evangelische Journalistenschule in Berlin absolviert. Seine Schwerpunktthemen sind Kirche, Islam, Integration und Zivilcourage.