Fisch aus dem Meer: Kollaps oder Revolution

Fisch aus dem Meer: Kollaps oder Revolution
Wie steht's mit dem Reichtum der Meere? Die EU nimmt mal wieder neuen Anlauf, ihre Fangquoten so zu halten, dass der Mensch die Meere nicht leer fischt. Dabei sind sich Gegner und Befürworter der industrialisierten Fischerei über die Zahlen einig - nur die Interpretation ist positionsabhängig unterschiedlich.
14.07.2011
Von Hermannus Pfeiffer

Aus Sicht von Umweltschutzorganisationen steht die Welt der Fische "vor dem Kollaps". Ebenso finster umschreibt die Europäische Kommission die maritime Lage: Fast 85 Prozent der weltweiten Fischbestände gelten als "vollständig ausgebeutet oder überfischt". Drohen uns also tote Meere ohne Seelachs, Hummer und Miesmuscheln? Nein, meint die Fischwirtschaft. Endzeitbekenntnisse hält das Fisch-Informationszentrum für "unlauter"; und die Horrorszenarien, welche EU-Kommissarin Maria Damanaki zeichne, seien "nur Marketing", um ihr Reformprogramm politisch durchzudrücken.

[listbox:title=Fisch essen[Die EU will auch Verbraucher besser informieren. Bis dahin empfiehlt die Verbraucherzentrale Hamburg, auf das MSC-Siegel zu achten. Es wird vom Maritime Stewardship Council vergeben, 1997 von der Umweltorganisation WWF und dem Lebensmittelkonzern Unilever zur Förderung nachhaltigen Fischfangs gegründet. MSC-Fische werden sogar auf Wochenmärkten und im Supermarkt angeboten. "Das MSC-Siegel", rät die Verbraucherzentrale, "ist eine gute Einkaufshilfe". Allerdings kommen Bio-Produkte oft von sehr weit her. Krabben vom Fischkutter aus der Nord- und Ostsee munden dann vielleicht doch besser als ökologisch unverdächtige Shrimps aus Ecuador.]]

Ungewöhnlich dabei: Die Parteigänger einer maritimen Endzeitstimmung greifen auf dieselben Daten zurück wie ihre gelassenen Gegner. Etwa die der Welternährungsorganisation FAO: 32 Prozent der Fischbestände sind danach "überfischt oder bereits erschöpft"; 53 Prozent werden als "vollständig ausgebeutet" klassifiziert. Das meint jedoch nicht, dass die Bestände schon zum Aussterben verdammt sind. Es ist lediglich die maximale Grenze erreicht, bis zu der eine "nachhaltige Produktion" möglich sei. Eine weitere Steigerung der Ausbeutung dieser Meeresgebiete verbiete sich. Wer nun eine Lagebeschreibung dramatisieren möchte, addiert beide Zahlen zu 85 Prozent; wer ein freundlicheres Bild wünscht, verweist auf den ungleich kleineren Kollaps von 32 Prozent der Fischbestände.

Was als einigermaßen gesichertes Wissen gelten kann, sammelt das Johann-Heinrich-von-Thünen-Institut auf seiner angenehm lesbaren Webseite "Fischbestände online". Dort zeigt sich tatsächlich ein weit bunteres Bild als das öffentlich dargebotene. Unterteilt nach Arten und Fanggebieten findet sich manch Unappetitliches, und global nimmt die Überfischung seit der ersten Erhebung 1974 zu. Aber die Schöpfung zeigt auch ihre Lebenskraft unter oft widrigen Bedingungen: So erlebt der unter Feinschmeckern besonders beliebte und von Wissenschaftlern fast schon für tot erklärte Dorsch ein Comeback. Beim Dorsch-Fang zeigen sich die Möglichkeiten europäischer Politik. Der Wiederaufstieg des Dorsches wurde ausgelöst durch einen von der EU verhängten Fangstopp für Polen und durch das Zurückdrängen illegaler Fischerei.

Wissenschaft und Beifang: Radikaler Ansatz

Einen "radikalen Ansatz" wählte EU-Kommissarin Maria Damanaki für ihre aktuelle Reform der europäischen Fischereipolitik. Obwohl Kritikern manches nicht weit oder schnell genug geht, könnte die Griechin geradezu eine Revolution in Richtung Nachhaltigkeit auslösen. Im Mittelpunkt ihres Programms stehen zwei Punkte. Die Fangmengen sollen sich in Zukunft nach wissenschaftlichen Empfehlungen richten sowie für einen längeren Zeitraum von mehreren Jahren festgelegt werden. Außerdem sollen alle gefangenen Tiere angelandet werden.

Bislang werden für die Industrie zu kleine Fische oder unerwünschte Sorten als Beifang - meist tot - wieder ins Meer geschmissen. Durch ein Verbot würde es sich für die Fischer rechnen, diesen Beifang zu reduzieren. Technisch ist dies möglich, etwa durch Netze mit größeren Maschen, die auf den Meeresboden entlang rollen statt ihn beim Schollenfang umzupflügen.

[listbox:title=Mehr im Netz[Einkaufsratgeber Fisch und Meeresfrüchte vom WWF##Der Greenpeace-Fischführer]]

Der "radikale Ansatz" der früheren Sprecherin der Studentenrevolte gegen die Athener Militärdiktatur könnte einen großen Schritt in Richtung einer nachhaltigen Fischerei bedeuten - wenn das überwiegend konservativ-liberale EU-Parlament mitspielt und zustimmungspflichtige Staaten über ihren kurzsichtigen nationalen Schatten springen. Die EU-Kommission hofft, bis 2013 die politischen Hürden genommen zu haben, und "bis spätestens 2015" soll die Befischung aller Bestände auf nachhaltiges Niveau gebracht sein. Nach vier Jahrzehnten verfehlter Fischereipolitik ein überaus ehrgeiziges Ziel!

EED: Desaster für Entwicklungsländer

Offen bleibt, wie die EU ihre eigenen Regeln endlich nachhaltig kontrollieren will. Offen bleibt auch, wie die Kommission die Fischfangflotten Europas sozialverträglich halbieren will. Etwa 400.000 Arbeitsplätze hängen am Fisch, und vor allem im Süden gibt es riesige Überkapazitäten bei den großen Fischfangflotten. Viele nationale Regierungen erlaubten daher ihren Fischern - trotz anders lautender Empfehlungen von EU-Kommission und Wissenschaftlern - zu hohe Fangmengen. Im Herbst will die Kommission nachlegen und bis 2020 pro Jahr eine Milliarde Euro nach den neuen Spielregeln verteilen.

Zu einem "Desaster" erklärte der Evangelische Entwicklungsdienst (EED) Frau Damanakis Politik für die Entwicklungsländer. Zwei von drei Fischen, die wir verspeisen, stammen aus Gewässern, die außerhalb der Reichweite der EU und ihrer Fischereikommissarin liegen. "Im EU-Gesetzesentwurf fehlen Zusagen für mehr Transparenz und die Beteiligung der Zivilgesellschaften Afrikas und Asiens bei Vertragsverhandlungen mit uns Europäern", sagte EED-Fischereiexperte Francisco Mari. Auch hier gelobt Frau Damanaki Besserung: Zukünftig soll in bilateralen Fischereiabkommen mit Staaten Nachhaltigkeit und Menschenrechte gefördert werden. Wenn sie sich dabei mal nicht übernimmt.


Hermannus Pfeiffer ist freier Wirtschaftsjournalist in Hamburg.