Bunte Schnapsgläser stehen auf der dunkelbraun lackierten Anrichte. Daneben ein Fläschchen Kölnisch Wasser. Die Türen der holzfurnierten Musiktruhe sind offen. Der Blick fällt auf alte Schlager-Schallplatten. Auf dem Auszieh-Couchtisch liegt das "Kicker"-Sonderheft zum "Wunder von Bern" 1954. Doch Walter Müller (Name geändert) interessiert sich vor allem für die schwarze Aktentasche, mit Griff und zwei Schnappverschlüssen: "Damit ging man zur Arbeit. Das war damals Mode. Drinnen war immer der..., na der..." Der 80-Jährige stockt - der Name will ihm nicht einfallen.
Der Altenpfleger Stephan Deneke kann helfen. Der stellvertretende Stationsleiter klappt die Tasche auf und fördert einen weißen Emaille-Topf zutage. Eine Blechklammer hält den ovalen Deckel darauf. Müllers Gesicht hellt sich auf: "Ja, genau, der Henkelmann." Dann beginnt er zu erzählen.
Das Erinnerungszimmer für demenzkranke Patienten im psychiatrischen Ameos-Klinikum Osnabrück ist ganz im Stil der 50er Jahre eingerichtet - mit bestickten Sofakissen, Kaffeemühle, alter Nähmaschine, Häkeldeckchen, Bonbonniere und Knüpfbildern an den Wänden. Braun oder wenigstens braun-beige-gestreift sind Tischchen, Teppichboden, Vorhang und Tapete.
"Manche fangen sogar wieder an zu sprechen"
"Bei den Patienten ist der Raum sehr beliebt", sagt Pflegedirektor Manfred Timm. Den Demenzkranken fehlt das Kurzzeitgedächtnis. Sie finden sich in der heutigen Zeit nicht mehr zurecht. "Über alte Erinnerungen gelingt es jedoch häufig, Wahrnehmung und Denken zu mobilisieren und so auch wieder ihre Lebensfreude zu wecken."
Beim Kaffeetrinken oder Kartenspielen sollen sie sich einfach wohlfühlen. "Wir finden wieder leichter einen Zugang zu unseren Patienten", sagt Altenpfleger Deneke. Auch bei schwer Dementen, die sich kaum noch äußern könnten, seien Erfolge spürbar: "Manche fangen sogar wieder an zu sprechen."
Pflegedirektor Timm hat bereits vor drei Jahren an seinem damaligen Arbeitsort im nordrhein-westfälischen Telgte das bundesweit erste Erinnerungszimmer in einer psychiatrischen Klinik eingerichtet. Die Erfahrungen seien so positiv gewesen, dass er das Projekt vor einigen Wochen auch in Osnabrück etabliert habe. "Die Mitarbeiter waren sofort begeistert. Sie haben die gesamte Einrichtung aus Privatbeständen, von Verwandten oder Freunden mitgebracht. So hat uns das Erinnerungszimmer bis auf die Tapeten nicht mal was gekostet."
Früher war alles besser...
"Wir lassen den Patienten Zeit, sich umzuschauen", sagt Pfleger Deneke. "Die meisten reagieren auf einen bestimmten Gegenstand wie die Nähmaschine oder die Aktentasche." Die dementen Patienten der psychiatrischen Klinik sind oft zusätzlich suizidgefährdet, extrem unruhig oder aggressiv. Das unterscheidet sie von dementen Bewohnern in Altenheimen und macht die Therapie besonders schwierig.
Auch Minna Seifert (Name geändert) war zu Beginn ihres Aufenthaltes rastlos und zuweilen sehr aggressiv. Mittlerweile ist die 89-Jährige in ihrer Stimmung schon wieder recht stabil. Mindestens einmal pro Woche besucht sie das Erinnerungszimmer. Jetzt sitzt sie ihrem Mitpatienten Walter Müller gegenüber und fällt ihm ein ums andere Mal ins Wort. Vom Henkelmann kommt sie auf die Milch, die früher viel besser schmeckte. "Und das Rindfleisch war zart wie Butter", schwärmt sie. "Die Ziege war die Kuh des kleinen Mannes", wirft Müller schnell ein.
In psychiatrischen Kliniken seien solche Erinnerungszimmer noch nicht sehr weit verbreitet, sagt Christine Sowinski vom Kuratorium Deutsche Alterhilfe mit Sitz in Köln. Durchweg positive Erfahrungen gebe es aber aus Altenheimen. Dort gebe es mittlerweile ganze Stationen, die mit Möbeln der 50er und 60er Jahre eingerichtet seien.
"Für kurze Zeit das Gefühl, sie selbst zu sein"
"In Erinnerungen schwelgen hat für jeden einen Nutzen", sagt die Psychologin und fügt hinzu: "Sich in die eigene Schulzeit zu versetzen, die erste Liebe noch einmal zu erleben - das steigert das Wohlbefinden, da fühlt man sich wieder jung." Gerade bei dementen oder auch depressiven alten Menschen helfe es, sie emotional zu stabilisieren. Selbst Erinnerungen an Negatives wie etwa Krieg oder Flucht könnten Positives bewirken: "Die Menschen haben dann wenigstens für kurze Zeit das Gefühl, sie selbst zu sein."
Minna Seifert ist ganz versunken in die Vergangenheit. Ihre Worte lassen ahnen, dass sie nicht nur schöne Zeiten hatte: "Ich sehe die Bilder immer noch vor mir. Meine beiden Brüder und ich mit meiner Oma und meiner Mutter. Wir haben immer zusammengehalten. Auch in der schrecklichen Zeit! Da fang ich immer an zu heulen." Dann sieht sie die alte kurbelbetriebene Schnippelmühle auf dem Tisch liegen und lacht plötzlich: "Hach, das war immer ein toller Nachmittag, wenn wir in der Küche alle zusammen Bohnen geschnippelt haben."