Georg Schubert steht im Innenhof der Segenskirche an der Schönhauser Allee in Berlin-Prenzlauer Berg. Seit vier Jahre hält er im "Stadtkloster Segen" die Fäden zusammen. Vor dem Hofeingang lärmt der Verkehr, übertönt wird er nur durch das Martinshorn eines Krankenwagens. Hier drinnen soll ein Ort der Besinnung entstehen. "Feuerwache, Polizeiabschnitt oder singende, manchmal grölende Passanten - man ist nie in Gefahr zu vergessen, wo man hier ist", sagt der 55-jährige Schubert lächelnd. Vor ein paar Tagen haben Diebe die Regenabflussrohre seiner Kirche abmontiert und mitgenommen, aber der Schweizer nimmt's gelassen. "Kupfer ist im Moment teuer. Und da hat jemand in der Nacht eben die drei Kupferrohe mitgenommen. Und übers letzte Wochenende hatten die Bauarbeiter hier einen Kompressor stehen lassen. Der ist auch wegmarschiert."
1.000 Kilometer sind es bis nach Montmirail, dem beschaulichen Dorf am Fuße des Schweizer Juragebirges. Inmitten von Bergen und Wiesen begann Schubert Ende der 1980er Jahre mit fünf weiteren Mitgliedern der Don-Camillo-Glaubensgemeinschaft ein ehemaliges Mädchenpensionat in eine christliche Tagungs- und Begegnungsstätte umzuwandeln. "Der Name der Romanfigur 'Don Camillo' hat uns gefallen. Sein Humor, seine einfache Beziehung zu Jesus, seine Liebe zu den Menschen. Wir wollten der Vermassung und der Vereinsamung gleichermaßen entgehen."
Don Camillos Liebe zu den Menschen
Heute gehören 25 Erwachsene und 33 Kinder zur Schweizer Communität. Im August 2007 sind zwei Familien der Gemeinschaft nach Berlin umgesiedelt. Gemeinsam leben, beten, das marode Gebäude der Segenskirche sanieren und religiöse Spiritualität ins Großstadtleben tragen, so lautet ihre Mission. "Wer will, dass die Kirche im Dorf bleibt, vergisst, dass heute fast 90 Prozent der Deutschen in Städten wohnen", lautet einer der Leitsätze im Berliner Stadtkloster.
Für einen symbolischen Euro kaufte die Gemeinschaft der evangelischen Segens-Gemeinde die über 100 Jahre alte Kirche an der viel befahrenen Schönhauser Allee im Herzen vom Prenzlauer Berg ab. Der Sozialismus hatte hier seine Spuren hinterlassen, Baufälliges wurde über Jahrzehnte aufgrund der prekären finanziellen Lage der Kirchen in der DDR nur notdürftig repariert. Der vierstöckige Frontbau, die Seitenflügel und das eigentliche Kirchengebäude im Hof waren heruntergekommen und für die kleine Gemeinde nicht mehr bezahlbar.
Nach vier Jahren Arbeit haben die Schweizer nun schon einiges geschafft. Einen Fahrstuhl und eine neue Heizung haben sie installiert, die Freske am Kirchenportal saniert, eine Solaranlage für die Warmwasserversorgung aufs Dach gebaut und vor einigen Wochen auch den Meditationsraum vom Erdgeschoss unters Dach verlegt – der einzige Ort im Stadtkloster, an dem wirklich absolute Stille herrscht. Die Kosten für die aufwändige Renovierung werden zum großen Teil durch Spendengelder aus der Schweiz gedeckt, ein wenig verdient die Gemeinschaft in Berlin durch die Vermietung von Gästezimmern und durch Meditationsseminare dazu.
"Wir haben unsere Mitte woanders"
Zwei Familien, ein Alleinstehender und drei Praktikanten wohnen heute im Stadtkloster, insgesamt zählt die Hausgemeinschaft zwölf Menschen. Sie teilen Arbeit, Mahlzeiten, Finanzen und ihren seelsorgerischen Einsatz, haben aber jeweils eine eigene Wohnung innerhalb des Klosters. "Wie jede andere Familie im Prenzlauer Berg" sagt Schuberts Frau Barbara. "Nur, dass wir unsere Mitte woanders haben als die Menschen, die sich selbst so unglaublich toll finden", fügt sie hinzu. Es ist ein langer Weg vom Schweizer Juragebirge bis zu den hippen, jung-kreativen Lebenswelten im neuen Berlin.
Klösterliches Leben inmitten eines Stadtviertels, in dem die persönlichen Freiheiten, ein selbstbestimmter Tagesablauf und moderne Lebensentwürfe das Geschehen bestimmen. Nach der Morgenandacht um 7.30 Uhr steht für die Mitglieder der Communität die tägliche Arbeit im Verwaltungsbüro, bei der Gästebetreuung oder auf dem Bau an. Zum Mittagsgebet um 12 Uhr kommen manchmal Besucher von außen, die einen Ruhepunkt in der Tagesmitte suchen. Manchmal sind es fünf, manchmal nur zwei.
Andrea Exner ist eine von ihnen. Sie ist Anfang 50 und lebt in der Nachbarschaft. Ihr Mann hat sich vor kurzem von ihr getrennt, jetzt herrsche Trennungskrieg, erzählt sie. "Das ist hier ein Ort der Besinnung, und das nehme ich natürlich dankend an. Und das sollten auch noch andere Menschen annehmen, das ist einfach gut, vor allem in dieser heutigen, so schwierigen Zeit", sagt Exner und kehrt ins hektische Treiben auf der Straße zurück.
Im Hof des Stadtklosters "Don Camillo" sind die Bauarbeiten in vollem Gange.
Nach dem Gebet wartet das gemeinsame Mittagessen in der Wohnküche der Schuberts. Weil gerade die Frontfassade des alten Backsteinbaus instand gesetzt wird, ist der Blick aus den Fenstern seit Monaten durch Gerüstplanen verdeckt. Das Schlimmste sei jetzt aber überstanden, meint die 19-jährige Praktikantin Janina aus einem Dorf bei Basel, die drei Monate im Berliner Stadtkloster verbringt. "Man merkt viel von der Stadt, es ist überhaupt nicht so, das es einfach still ist, auch wegen der Baustelle. Es ist einfach überall staubig, und bei starkem Regen kommt das Wasser durch die Fenster rein. Und am Anfang hat es ziemlich gelärmt wegen dem Kompressor. Aber jetzt geht's."
Der Lärm der Baustelle
Nach dem Mittagessen geht die Arbeit weiter. Heute fräst Praktikant Raphael unter dröhnendem Lärm neue Kabelkanäle für die Elektrik im Treppenhaus. Leben auf der Baustelle. Plötzlich steht ein junger Mann am Treppenaufgang, zottelige Haare, ein verlegenes Lächeln. Hans, 26 Jahre alt und aus Tübingen, will sein Theologiestudium in Berlin weiterführen. Den Einzug ins Stadtkloster sieht er als Experiment. "Ich habe Lust auf Gemeinschaft. Ich glaube, dass darin ein Geheimnis liegt, dass in unserer Gesellschaft gerade ein bisschen verloren geht. Dass es in Berlin einen ganz hohen Grad an Anonymität gibt, das schlägt einem sofort ins Gesicht. Um so spannender ist es, so etwas hier zu sehen."
Während Hans sich in seinem neuen Zimmer einrichtet, steigt Klosterleiter Schubert die vier Stockwerke zur Kapelle unterm Dach hinauf, zur Vorbereitung der Abendmeditation. "Man braucht einen Raum, in dem man mehr Ruhe finden kann. Aber wenn man mal wirklich still ist, merkt man, dass der Lärm im Kopf meistens das größere Problem ist als der Lärm draußen. Und das ändert sich auch an der Schönhauser Allee nicht. Wir haben leise Anzeichen, dass ein Stadtkloster funktionieren kann", meint Schubert. "Nach vier Jahren sind wir noch da, und das ist ein gutes Zeichen."
Cornelius Wüllenkemper ist freier Journalist und lebt in Berlin.