"Vater Unser ..." - Japanische Christen hoffen und beten

"Vater Unser ..." - Japanische Christen hoffen und beten
Gedämpfte Stimmung in der Japanischen Evangelischen Gemeinde Frankfurt an diesem zweiten Sonntag nach der Katastrophe. Elf Gemeindeglieder sind am Nachmittag zum Gottesdienst in den Frankfurter Norden gekommen, zehn Japaner und ein Deutscher. Sie treffen sich in den Räumen der "Missionsgemeinde Frankfurt" in einem Gewerbegebiet. Draußen scheint die Sonne - wie schön wäre es, im Park spazieren zu gehen! Doch für sie ist wichtiger, jetzt beieinander zu sein. Sie wollen die neuesten Informationen aus Japan austauschen und zusammen beten.
21.03.2011
Von Anne Kampf

Pastor Masataka Tanabe hat einen Pappkarton mitgebracht. Der ältere Herr in Anzug und Krawatte stellt die graue Kiste bedächtig auf einen Tisch am Eingang zum Gottesdienstraum. "Spende für die Opfer des Erdbebens in Japan" steht auf deutsch und japanisch auf der Vorderseite, oben ein breiter Schlitz. Die Spendenbox ist zu groß für die kleine japanische Gemeinde in Frankfurt - so, wie auch die Sorgen um Verwandte und Freunde in der Heimat zu groß sind. "Ich bin jetzt 78 Jahre alt und habe noch nie von einer so großen Katastrophe gehört", sagt Pastor Tanabe mit ruhiger Stimme.

Pastor Masataka Tanabe mit der Spendenbox. Foto: evangelisch.de/Anne Kampf

Er selbst hat nicht mehr zu beklagen als zwei zerbrochene Reisschüsseln. Die sind bei einer seiner Töchter in Japan während des Erdbebens aus dem Schrank gefallen, der bedrohlich wackelte. Das bleibt die einzige scherzhafte Bemerkung an diesem Sonntagnachmittag - den meisten hier ist überhaupt nicht zum Lachen zumute, das weiß auch ihr Pastor. Chiyuki Watenabe, die im Gottesdienst Klavier spielt, vermisst ihren Cousin. Er lebt in Sendai. Oder... lebte? Die junge Frau weigert sich, den schlimmsten Gedanken zuzulassen. Der Cousin ist nicht erreichbar, "wir hoffen, dass nur das Telefon kaputt ist", sagt Chiyuki Watenabe.

Auch Masako Uchiyama sorgt sich um einen Bekannten: Er lebt rund 50 Kilometer vom Atomkraftwerk Fukushima entfernt und würde gern fliehen - hat aber kein Benzin. Der Sprit wird rationiert, "mehr als zehn Liter darf er nicht tanken", erklärt Masako. Die junge Frau ist trotz der schrecklichen Bilder aus ihrer Heimat nicht ganz so bedrückt wie andere: Ihre Eltern in Japan sind wohlauf, das macht sie froh. Gleichzeitig wundert sich Masako Uchiyama über den Gleichmut ihrer Eltern: "Sie sind sehr ruhig", keine Spur von Panik.

"In Japan heißt es immer nur: Ruhig bleiben."

Das könnte an der Berichterstattung im Fernsehen liegen, vermuten die Deutsch-Japanerinnen. Tagelang haben sie nach der Katastrophe kaum etwas anderes getan als Nachrichten zu schauen und im Internet zu surfen. "Die japanischen Medien sagen nicht alles", ist Chiyuki Watanabe überzeugt. "Hier in Deutschland erklären Physikprofessor, wie Atomkraftwerke funktionieren, und zwar komplett. In Japan heißt es immer nur: Ruhig bleiben." Masako Uchiyama stimmt ihr zu. Sie hat verschiedene deutsche und japanische Sendungen im Internet verfolgt und fand deutliche Unterschiede in der Berichterstattung.

Die Japaner in der Evangelischen Gemeinde in Frankfurt haben ihre eigenen Informationen. Sie stehen in Kontakt zu christlichen Gemeinden in der Katastrophenregion, Liturgin Miyako Tanabe liest nach dem Gottesdienst aus Briefen der Glaubensgeschwister vor. Ein Wunder, dass sie sich dort überhaupt zu Gottesdiensten treffen - zwischen all den Trümmern. "Sie halten an ihrem Glauben fest", freut sich die Ehefrau des Pastors. "Mein Gedanke war: 'Warum lässt Gott so ein Unglück zu?' Jemand dort sagte: 'Ein Glück, dass es im Winter passiert ist und nicht im heißen Sommer.' Hätte ich so etwas von hier aus gesagt, wäre es der blanke Hohn gewesen. Aber die Menschen dort versuchen, etwas Positives zu sehen."

Auch Geschichten dieser Art helfen den evangelischen Christen in Japan, die Hoffnung nicht zu verlieren: 42 Patienten eines Krankenhauses hätten es geschafft, sich vor der Tsunami-Welle auf das Dach des Gebäudes zu retten, heißt es in einem der Berichte. Unter ihnen eine schwangere Frau, die auf dem Dach ihr Kind zur Welt gebracht habe. Keine komfortable Situation - aber ein Lebenszeichen aus dem Unglücksgebiet. Solche Erzählungen halten die Menschen zusammen. Miyako Tanabe sieht es so: "Manche Leute haben jetzt gemerkt, mit wie wenig sie im Leben auskommen - und wie sehr sie den Glauben an Gott brauchen."

Yasuko weint um die Waisenkinder

Das merken sie auch hier in Frankfurt. Besonders Yasuko Engelmohr, die erst seit wenigen Monaten mit ihrem deutschen Mann Peter in Frankfurt lebt. Sie erzählt und erzählt und weint dabei - so sehr gehen ihr die Ereignisse in ihrer Heimat nahe. Eine gute Freundin aus Tokio hat alle ihre Angehörigen in Fukushima verloren, übersetzt Peter Engelmohr, und auch seine Stimme versagt fast. Pastor Tanabe und die anderen Gemeindeglieder hören voller Mitleid zu und seufzen.

Ein Teil der Japanischen Evangelischen Gemeinde Frankfurt am Main. Foto: evangelisch.de/Anne Kampf

Yasuko Engelmohr denkt vor allem an die Kinder: "In Japan stehen Schulen oft auf Anhöhen. Dadurch haben viele Kinder den Tsunami überlebt, ihre Eltern im Tal aber nicht. Die Kinder leben, und die Eltern sind tot! Es gibt gar nicht genügend Kinderheime in Japan…" Sie weint. Zurück nach Japan möchte sie nicht, lieber mit ihrem Mann hier im sicheren Deutschland bleiben. Zurzeit besucht Yasuko Engelmohr einen Deutschkurs und bereitet sich so auf einen längeren Aufenthalt vor.

Was sie in der vergangenen Woche in Frankfurt erlebt hat, macht ihr Mut. "Ich werde oft angesprochen, ob ich aus Japan komme", erzählt Yasuko. Manchmal betet sie auf der Busfahrt zum Deutschkurs, auch das bekommen andere mit. "Dadurch komme ich in Kontakt mit den Menschen, und ich glaube, dass sie dann auch zu Gott beten." Yasuko Engelmohr findet Halt im Glauben an Gott. Auch das Mitgefühl der Deutschen tut ihr gut.

Pastor: "Man muss die gesamte Atomkraft abschaffen!"

Pastor Masataka Tanabe ist ebenfalls dankbar. Dankbar für die vielen Anrufe, die er seit der Katastrophe bekommt, "von Menschen, sie ich gar nicht kenne", wundert er sich. "Woher haben die denn meine Telefonnummer?" Vermutlich aus dem Internet. Die Anrufer drücken ihr Mitgefühl aus und fragen, wie sie helfen können. "Japaner und Deutsche haben immer schon eine besondere Beziehung zueinander", erklärt der Pastor.

Dann geht er nahtlos über zum Thema Atomkraft - das liegt ihm auf dem Herzen, und er spricht deutliche Worte: "Japan ist das einzige Land, das den Abwurf von Atombomben erlebt hat. Es ist gegen Atomwaffen, aber für die friedliche Nutzung. Ich denke, es ist dasselbe, nur in einem anderen Gewand. Man muss die gesamte Atomkraft abschaffen!" Diese Haltung entspricht seiner Überzeugung als Christ: "Gott hat uns auch andere Energiequellen zur Verfügung gestellt, Sonne und Wind zum Beispiel, die sollten wir nutzen."

Masataka Tanabe ist ein Mann der klaren Worte. Auch im Gottesdienst. Im Gebet und zu Beginn der Predigt geht er selbstverständlich auf die Lage in Japan ein, die Predigt selbst aber handelt vom Glauben an die Auferstehung. Der Pastor hat den vorgeschlagenen Bibeltext für diesen Sonntag gewählt, lässt sich nicht abbringen von seinem Auftrag, Jesus Christus als auferstandenen Herrn zu bezeugen. Die Beziehung des Menschen zu Gott - darauf kommt es ihm an, ob mit oder ohne Katastrophe. Am Ende der Predigt sagt er: "Wir wollen uns darauf freuen, dass wir bald unseren Retter sehen. Was wir jetzt sehen, zeigt, dass das Ende naht." Dann betet er ein langes Gebet.


 Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.