David Lynch sitzt in einem pastell-düsterem, leicht gruselig in Szene gesetzten Raum, der ein wenig an die Atmosphäre seines Kinoerfolgs "Wild at heart" erinnert, und hält seinen Kopf Claus-Kleber-haft schräg. So begrüßt der 64-jährige Altmeister in jeder Folge das Publikum, spricht für englischsprachige Zungen schwierige deutsche Namen wie "Lehmann" oder "Joachim" aus, sagt noch einen weiteren Satz und dann: "Enjoy the interview!". Ansonsten hat er wenig zu tun mit dem Online-Angebot "David Lynch presents Interview Project Germany", das seit Donnerstag das Internet bereichert.
Denn dann erzählen eine Frau (wie in der ersten Episode Luci Lehmann aus Teschow in Mecklenburg-Vorpommern) oder ein Mann irgendwo in Deutschland von ihrem Leben. Die rund fünf Minuten langen Filme sind aus einem etwa einstündigen Interview montiert, das Davids Sohn Austin Lynch, der amerikanische Dokumentarfilmer Jason S. und die deutsche Dokumentarfilmerin Judith Keil ("Dancing With Myself") mit Menschen geführt haben, die sie während einer 27-tägigen Autofahrt im Oktober 2010 kreuz und quer durch Deutschland getroffen und gefragt haben, ob sie spontan Zeit haben. Wenn ja, haben sie ihnen große, aber einfache und offene Fragen gestellt - nach dem Glück, nach ihrer Kindheit und danach, wie sie erinnert werden möchten.
Protagonisten wurden nicht wie üblich gecastet
Das Konzept entspricht dem im Mai 2010 abgeschlossenen "Interview Project USA". Das Erstaunlichste daran ist das Zufallsprinzip, das aktuellen deutschen Medienerwartungen diametral widerspricht, weil es mit den im deutschen Fernsehen gängigen "scripted-reality"- und "Dokusoap"-Konzepten nichts zu tun hat. "Completely random" ("absolut zufällig") war der Begriff, den die US-Filmemacher bei der Präsentation in Berlin am häufigsten benutzten. Die Gesprächspartner wurden weder "gecastet" noch gesucht, sondern zufällig auf der Straße angetroffen. Sie wurden nicht inszeniert, sondern setzten oder stellten sich an einen ruhigen Ort draußen, der sich bei natürlichem Licht filmen ließ. Und kein Off-Kommentator erklärt, um wen genau aus welchem Milieu es sich handelt.
Etwa sieben Passanten mussten die Filmemacher durchschnittlich fragen, um einen zu treffen, der zum Spontaninterview bereit war, schätzt Judith Keil. Nur zwei Befragte wollten im Anschluss ihre Aussagen lieber doch nicht veröffentlicht sehen. Insgesamt führten die Filmemacher 52 Interviews, von denen 50 im kommenden halben Jahr sukzessive veröffentlicht werden.
Jeder Mensch ist interessant
Und wie im US-Vorbild führen der ur-amerikanische Individualismus und die Überzeugung, dass jeder Mensch interessant ist, auch in den deutschen Filmen, von denen erste in Berlin präsentiert wurden, zu erstaunlichen, erfrischenden Momenten. Wenn zum Beispiel eine junge Frau im Bayerischen sagt: "Zum Glück fehlt mir noch nichts", mit etwas mehr Betonung auf "Glück" als auf "noch". Oder wenn ein Mittfünfziger aus Kassel nicht gerade eloquent, aber mit Freude an schnellen Reimen von den Schlägen seines Vaters erzählt, unter deren Langzeitwirkungen er vermutlich leidet.
Die Kamera, deren wenige, ruhige Einstellungen manchmal durchaus an Lynchs Bildsprache erinnern, etwa wenn sie sich kurz an Karotten in der Sonne erfreuen, folgt am Ende den Interviewten, wenn sie den Schauplatz verlassen. Selbst das ist manchmal aufschlussreich, ob die nette Luci Lehmann noch einmal winkt oder der Kasselaner im Bildhintergrund in einem Müllbehälter nach Pfandflaschen schaut, mit denen er seinen kargen Lebensunterhalt offenbar teils bestreitet.
Den Verlauf der Reise (der sich im Produktions-Blog verfolgen lässt) von Berlin nach Norden, dann nach Süden, Westen und Osten zurück nach Berlin, wo bis vor kurzem die Postproduktion stattfand, bestimmte der Zufall, manchmal eine geworfene Münze. Auch wenn die deutschen Autobahnen für Austin Lynch eine tolle Erfahrung waren, wählten die Filmemacher oft die wenig befahrenen Straßen. "Wir fuhren die Straßen, nach denen uns war", meint Austin Lynch.
Die Deutsche Judith Keil war gegenüber dem Zufalls-Prinzip in den ersten drei bis vier Tagen skeptisch, sagt sie, glaubt seitdem aber: "Gerade wenn man nicht versucht, den statistischen Durchschnitt zu bekommen, erfährt man en passant sehr viel über das Land". Besonders die Wiedervereinigung bewege die Menschen von 2010 im Rückblick. Und tatsächlich, jemanden so entspannt wie Luci Lehmann sagen, dass 1989 "alles anders geworden" ist, dass eben "alles, was jahrzehntelang gut und richtig war, auf einmal weg" war, hört man im Fernsehen selten.
Deutsche Sender hatten kein Interesse
Der deutsche Coproduzent Stephan Balzer, Geschäftsführer der Kommunikationsagentur "red onion" und im Filmgeschäft ein Debütant, hat Lynch überzeugt, das US-Format in Deutschland fortzusetzen. "Schließlich müssten wir in Deutschland mit zwei Weltkriegen im letzten Jahrhundert mehr Geschichten zu erzählen haben als die Amerikaner", sagt er. Balzer hat sowohl mit Fernsehsendern wie mit Filmförderungen verhandelt. Doch wollte sich niemand beteiligen. Da müsste schon eine 90-minütige Kinofassung erstellt werden, hieß es bei den Filmförderern. Da müsste der Coproduzent David Lynch schon selber Regie führen, so die Sender. Und bei Internetprojekten sei man sowieso vorsichtig - auch, aber nicht nur wegen des Rundfunkstaatsvertrags, der öffentlich-rechtlichen Sender bei Online-Aktivitäten Zurückhaltung auferlegt.
So hat Balzer das deutsche Interviewprojekt, dessen Budget sich im höheren sechsstelligen Euro-Bereich bewege, allein mit Sponsoren finanziert. Auf die Reaktionen im Social-Media-Bereich, der auf interviewproject.de geplant ist, wie auch auf internationale - englische Untertitel lassen sich zuschalten - sind die Macher gespannt. Am liebsten würden sie mit ihrem Interviewformat um die ganze Welt reisen, sagt Austin Lynch.
Dass es sich dabei tatsächlich um ein ideales Internetformat handelt, weil es sich in eigener Regie online viel sinnvoller verfolgen lässt als in einer vorgegebenen Abfolge in Kino oder Fernsehen, das zeigt die amerikanische Webseite. Wer sich die für ein paar Minuten anschauen will, dürfte ziemlich schnell von einem Sog erfasst sein und dann auf immer mehr Gesichter oder Orte auf der Landkarte, also immer mehr der insgesamt 121 Interviews klicken.
Christian Bartels ist Medienjournalist in Berlin und unter anderem Autor beim allseits beliebten Altpapier.