Beim Faschingsumzug verrammeln sie die Fenster

Beim Faschingsumzug verrammeln sie die Fenster
Ralf Theuer ist Bürgermeister in Brieskow-Finkenheerd. Und lebt von Hartz IV. Menschen wie er haben sich in Westmobiliar eingerichtet, und in Enttäuschung. Optimist bleibt er trotzdem.
28.02.2011
Von Karola Kallweit

Die zwei Türme würden fallen. Am 10. Oktober 1998 war das deutsche Fernsehpublikum zu Gast in Brieskow-Finkenheerd. Zur Sprengung der Kraftwerkschlote. Die Außenwette, ein "Riesenhöhepunkt", wie Ralf Theuer sagen würde. 1998 war auch das Jahr, in dem er im zweiten Anlauf zum ehrenamtlichen Bürgermeister im brandenburgischen Brieskow-Finkenheerd gewählt wurde. "Wetten, dass..?" Beide Türme sollten sich beim Fallen in der Luft berühren. Um 21 Uhr und 21 Minuten passierte es. Mit donnerndem Getöse stürzten die Türme, berührten sich - und stolze DDR-Industriegeschichte zerfiel zu Staub. Wette gewonnen. Das Glück kam trotzdem nicht über Brieskow-Finkenheerd.

Ralf Theuer ist kein Mann der großen Worte. PR-Lächeln und Würdenträgerfloskeleien sind seine Sache nicht. In der Uckermark, da sei er aufgewachsen. Mehr nicht. Das muss als Information reichen. Die spröde Schönheit der Landschaft seiner Kindheit, sie scheint weit weg. Hier in seinem Büro, in der Schule, die schon länger keine mehr ist. "Die Schüler sind jetzt alle im Nachbarort." Er spricht in kurzen Sätzen, manchmal gar nur ein Wort verlegen weggenuschelt. Als hätte Theuer Angst vor der eigenen Stärke.

Die eingezäunte Leere

Brieskow-Finkenheerd, eine unbedeutende Haltestelle auf der Strecke von Frankfurt/Oder nach Eisenhüttenstadt. Das war mal anders. Vor der Wende, da gab es hier viel Industrie. Die Eisenbahn brachte die Pendler. Zur Braunkohle im Tagebau, in das Heizkraftwerk, zur VEB Oderfrucht und zum Kran-, Beton- und Gartenbau. Jeder Betrieb hatte Anschluss an die Haupttrasse der Eisenbahn. Die Lebensader. Von ihr aus verteilte sich das Schienenetz über den Industrieort. Ganze Siedlungen entstanden, in denen die Arbeiter ein Zuhause fanden. Scheibchenhäuser mit Garten. Das war der Aufschwung Ost. Manche der Siedlungen haben die Wende überlebt. Doch viele Menschen sind mit der Industrie verschwunden. Große Brachflächen, überall im Brieskow-Finkenheerd. Eingezäunte Leere. Gefahrenzone. Mancherorts sackt der Boden ab. Auch im Leben.

Theuer lässt sich seit einem Jahr einen Kinnbart stehen. Akkurat geschnitten steht er in seltsamem Kontrast zum Rest des Menschen. Verwaschen die Farben seiner Kleidung, deren Auswahl vor allem auf die gewünschte Funktion verweist. Fast scheint es, als könnte der schmächtige Mann jeden Moment in dem roten Anorak, dem blau-weiß gestreiften Hemd oder der beigen Hose verschwinden. Der Maschinenbauer Theuer ist seit 1998 arbeitslos. Am Anfang hat er sich noch beworben. Doch Arbeit zu finden in dieser Gegend, das ist schwierig heutzutage. Und weggehen aus Brieskow-Finkenheerd? Er und seine Frau hatten sich doch die Eigentumswohnung gekauft und die Kinder, die gingen hier zu Schule. Nach der Wende haben sich viele eingerichtet. In Westmobiliar und Enttäuschung.

Wende als Karriereknick

Eigentlich wollte Theuer Mathematik studieren. Nach Moskau wollte er. Doch die Zuständigen im Auswahlverfahren haben ihn nicht genommen. Statt dem Wunschberuf gab es dann ein Umprofilierungsgespräch. Die Betriebe kamen und stellten sich vor und am Ende wurde beschlossen, dass es der Maschinenbau sein sollte. "Die Bilder sahen schön aus von den großen Kränen und den Kohleabbaugeräten", sagt Theuer. Nach dem Studium und den ersten Arbeitsjahren bei Kranbau Eberswalde sei er dann hierher, nach Brieskow-Finkenheerd delegiert worden. Leitungskader sollte er werden. Einen Betriebsteil übernehmen. Da sei zuerst nicht so sein Ding gewesen, aber dann hat er sich angefreundet mit der Idee. Nur dieses mal war es die Wende, die ihm eine Karriere verwehrte.

Der Bau der Oder-Lausitz Trasse, einer Straße von der Ostsee runter bis Cottbus, sorgt in Brieskow-Finkenheerd aktuell für Unmut. "Als Ortsumgehung, nur bei uns soll sie mitten durchs Dorf gehen", erzählt Theuer zur Abwechslung mal ganz bürgermeisterisch. Jetzt klagt das Dorf vorm Bundesverwaltungsgericht. Theuer ist eigentlich bodenständig. Er macht, was gemacht werden muss. Den älteren Dorfbewohnern zum Geburtstag gratulieren, Gemeindevertretersitzungen abhalten, der jährliche Auftritt bei der Finkenheerder Faschingssitzung, Kita und Hort besuchen, die unten im alten Schulgebäude untergebracht sind. Und dann blitzt dem Mann mit dem Rumpelstielzchenbart für einen Moment der Schalk aus den Augen: "Kennen tun mich alle Kinder, die Jugend bis 30 – wenn sie nicht zum Arbeiten den Ort verlassen – und alles was über 75 ist."

"Sie googeln ja schon wieder!"

Im alten Schulgebäude sind heute das Heimatmuseum, das Schulmuseum und das Bergbaumuseum untergebracht. Drei Räume angefüllt mit den Erinnerungen an bessere Zeiten. Im Heimatmuseum arbeitet eine 1,50-Euro-Jobberin. "Sie googlen ja schon wieder!" Theuer meint es nur halbernst. Er ist ein Kollege ohne Allüren. Die Dame mit Minijob ist zurückgekehrt an den Ort ihrer Kindheit. Das sei wohl so, wenn man älter wird. Und dann stehen Theuer und seine Mitstreiterin vor den Haushaltsrelikten aus vergangenen Tagen und erinnern sich. So eine Blaubeergabel habe es auch bei ihr zu Hause gegeben.

"In welchem Betrieb haben Sie gearbeitet?" Das ist eine wichtige Frage in Brieskow-Finkenheerd. Hier definiert man sich über Betriebe und nicht über den Familiennamen oder die Ortszugehörigkeit. Das war schon immer so. In den Nachbarorten ist das anders. Mehr Wir-Gefühl. Wenn der Faschingsumzug durch Brieskow-Finkenheerd zieht, verrammelt so mancher sein Fenster. Und laut Gerüchten soll in diesem Jahr bereits zum dritten Mal das Fischerfest ausfallen. Und auch das Sommerfest steht noch in den Sternen. Mit der Industrie verschwanden nicht nur die Menschen sondern auch das, was diesen Ort im Innersten zusammenhielt. Der Arbeitergeist.

Von Katja und Helene

Ein Erfolg als ehrenamtlicher Bürgermeister sei die 650-Jahrfeier des Orts gewesen. "Drei dolle Tage" seien das gewesen, sagt Theuer. Und auch die Natur, die "Katja" und die "Helene", ehemalige Gruben, die heute Badeseen sind. Das sei schon was. Man könne schon ganz gut leben hier. Nur genaue Arbeitslosenzahlen, die habe er nicht, sagt Theuer. Aber das sei bestimmt so der Schnitt, wie überall in der Gegend. Die Ämter und Behörden, da hat er nichts Negatives zu berichten. Auch nicht zur Politik aus Berlin. Einen Wunsch äußert er dann doch vorsichtig: "Die sollten mit offenen Karten spielen." Theuer selbst ist heute parteilos. Als er Bürgermeister werden wollte, hatte er damals für die Linken kandidiert. Drei Sitze hat er gewonnen. Aber es gab keine Abgeordneten in der Gemeinde.

Ein Jahr vor dem "Wetten, dass..?"-Triumph kam das Hochwasser. "Da warn se alle hier und ham geholfen", erinnert sich Theuer. Wenn er davon erzählt, dann wird er lebhaft. Der Schweigsame kommt in Fahrt, wenn er über diese Ereignisse spricht. Über Geschichten aus der Umgebung. Die Sache mit dem Schwarzbier, dass sich eigentlich nicht Bier nennen durfte, weil es nicht nach dem Reinheitsgebot gebraut wurde. Nur eine Geschichte erzählt er nicht. Erzählt niemand. Die Mutter, die neun eigene Säuglinge getötet und in Blumenkübeln vergraben hat. Das hätte einfach nicht passieren dürfen.

Die Hungerjahre sind vorbei

"Haben Sie schon mal einen Sandkasten im Haus gesehen"? Theuers Büro liegt in einer kleinen toten Ecke im Inneren des Schulgebäudes. So oft es geht entflieht der Bürgermeister der einsamen Enge seines ehrenamtlichen Arbeitsplatzes. Er geht dann runter und besucht die Kinder in der Kita und im Hort. Nach den Hungerjahren in den 1990ern kämen jetzt wieder 'ne ganze Menge Kinder auf die Welt, weil das einfach zur Familie gehöre, sagt Theuer. Er sei eben Optimist.


Karola Kallweit ist freie Journalistin in Frankfurt und Berlin.