Der umstrittene Prophet und sein Erbe

Der umstrittene Prophet und sein Erbe
Anhänger der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik erinnern an diesem Wochenende an den Gründer ihrer Weltanschauung, Rudolf Steiner. Er kam vor genau 150 Jahren, am 27. Februar 1861, in dem heute zu Kroatien gehörenden Örtchen Kraljevec zur Welt. Steiner polarisiert. Von seinen Anhängern wird er verehrt und bewundert, von Kritikern als Absonderling belächelt.
25.02.2011
Von Andreas Fincke

In der Tat entzieht sich der "Prophet im Gehrock" einem schnellen Urteil. Er hat erstaunlich viel publiziert; sein Gesamtwerk umfasst etwa 365 Bände. Steiner dürfte damit einer der produktivsten Denker der Geistesgeschichte sein. Zunächst trat er als Goetheforscher, Philosoph und Literaturkritiker an die Öffentlichkeit, später wurde er als Begründer der Anthroposophie und als Lehrer des Okkulten weltweit bekannt.

Die Anthroposophie ("Weisheit vom Menschen") ist eine esoterische Weltanschauung. Es geht hierbei nicht um überlieferte religiöse Traditionen, sondern um einen Erkenntnisweg, der durch "geistige Schau" gewonnen wird. Steiner beruft sich auf eine Art "übersinnliches Wissen". So will er den Weg für die "Erkenntnis höherer Welten" geöffnet haben. In seinen Vorträgen berichtet er zahlreiche Details, die er aus der "Akasha-Chronik", einer Art Weltgedächtnis, gewonnen haben will.

Steiner und die zwei Jesusknaben

Über Geheimwissen lässt sich schwer diskutieren. Mitunter handelt es sich jedoch um sehr konkrete Ideen. So berichtet Steiner unter Hinweis auf die unterschiedlichen Stammbäume Jesu im Neuen Testament, dass es ursprünglich zwei (!) Jesusknaben gegeben hätte. Aus kirchlicher Perspektive wird dieses vermeintliche Geheimwissen zu einem Problem, wenn Steiner meint, mehr, bessere und tiefere Erkenntnisse über theologische Fragen vermitteln zu können, als wir sie in der Heiligen Schrift finden. Denn aus Sicht der Kirchen gibt allein die Heilige Schrift Auskunft über Gott.

Daher ist umstritten, ob die Anthroposophie eine Art Offenbarung ist, oder nur einen Weg zu einer Offenbarung öffnet. Wäre sie eine Offenbarung, dann wären Steiners Erkenntnisse zu theologischen Themen gleichrangig oder gar höherwertig als die Heilige Schrift. Viele Anhänger Steiners kennen das Problem und argumentieren, dass sie in Steiner keine Offenbarung finden würden, sondern allenfalls ein "Organ für Offenbarung". Dennoch ist dieser Streit noch lange nicht ausgefochten.

Schulen außerordentlich erfolgreich

Einer breiteren Öffentlichkeit ist die Anthroposophie durch die Waldorfpädagogik bekannt. Waldorfschulen sind außerordentlich erfolgreich. Derzeit gibt es allein in Deutschland 220 Schulen – noch vor 30 Jahren waren es allenfalls 30 bis 40. Der Zulauf ist also enorm. Zu fragen wäre, ob der Ruf der Waldorfschule so gut ist, weil die dahinter stehende Pädagogik überzeugt, oder ob der schlechte Ruf vieler öffentlichen Schulen den Glanz der Waldorfpädagogik umso heller strahlen lässt.

Bildungsforscher bescheinigen der Waldorfpädagogik durchaus Qualitäten. So gilt zum Beispiel das Prinzip der Klassenlehrer als vorbildlich. An einer Waldorfschule ist man bestrebt, die Kinder von der ersten bis zur achten Klasse an einen und denselben Klassenlehrer zu binden. Dieser Ansatz ermöglicht eine enge Bindung der Schülerinnen und Schüler an den Lehrer - und umgekehrt. Aber es gibt auch kritische Aspekte. Umstritten sind Bildungsinhalte, die sich mit Elementargeistern oder bestimmten Aussagen zu den menschlichen Rassen beschäftigen.

Wie schwierig eine Beurteilung der Waldorfschule ist, zeigt folgender Umstand: An keinem anderen Schultyp erhalten die Kinder so viel Nachhilfeunterricht, wie an den Waldorfschulen. Das kann man als einen Hinweis auf den Bildungseifer der Eltern deuten – oder aber als ein Zeichen dafür, dass die Pädagogik eben doch nicht so überzeugend funktioniert. Manche Bildungsexperten fassen das so zusammen: Die Waldorfpädagogik ist eine beeindruckende Praxis auf dem Boden einer dubiosen Theorie.

Weit weg vom biblischen Befund

Auf religiösem Gebiet wird der Einfluss der Anthroposophie in der "Christengemeinschaft" sichtbar. In Deutschland hat die Gemeinschaft mit dem Untertitel "Bewegung für religiöse Erneuerung" einige zehntausend Mitglieder und Freunde. Man kann sagen, dass es sich hierbei um die intellektuell anspruchsvollste unter den religiösen Sondergemeinschaften handelt. Rudolf Steiner hat sämtliche kultischen Texte für die Christengemeinschaft verfasst. Bereits der erste Artikel des Glaubensbekenntnisses, ebenfalls von Steiner formuliert, zeigt, wie sehr sich die Sprache vom biblischen Befund entfernt hat. Dieser lautet: "Ein allmächtiges, geistig-physisches Gotteswesen ist der Daseinsgrund der Himmel und der Erde, das väterlich seinen Geschöpfen vorangeht."

Wichtig für die Christengemeinschaft sind die Vorstellungen von Reinkarnation und Karma. Man geht davon aus, dass sich der Wesenskern des Menschen wiederholt inkarniert und wir folglich die Erfahrung mehrerer Erdenleben machen. Karma bedeutet in diesem Zusammenhang, dass bestimmte individuelle Gegebenheiten (etwa Krankheiten) in früheren Leben begründet sein können. Folglich hat die Beichte in der Christengemeinschaft eher die Bedeutung einer "Schicksalsberatung". Umstritten ist schließlich die Taufe der Christengemeinschaft. Die ökumenischen Kirchen erkennen diese nicht als vollgültig an – umgekehrt erkennt die Christengemeinschaft die Taufen der ökumenischen Kirchen an.

Eine weitere Frucht von Steiners Anthroposophie ist die biologisch-dynamische Landwirtschaft. Wirtschaftsverbände wie "Demeter" sind weit verbreitet und bieten Produkte von hoher Qualität. Weniger bekannt sind einige seltsame Aspekte der Herstellung. So spielen zum Beispiel astrologische Fragen wie das Vergraben von Kuhhörnern im Frühherbst zum vermeintlichen Sammeln "kosmischer Kräfte" eine große Rolle. Erneut kann man festhalten: Uns begegnet eine eigenartige Mischung von wunderlichen Ideen mit hoch aktuellen Aspekten. Denn zweifellos ist die Frage nach einer gesunden und menschengemäßen Landwirtschaft in Zeiten von Rinderwahn und dioxinverseuchten Eiern lebenswichtig. Viele werden sagen: besser Kuhhörner im Herbst als Dioxin im Rührei.

Kuhhörner im Herbst statt Dioxin im Rührei

Ein abschließendes Urteil zu Steiner ist nicht leicht. Es gibt vermeintliche Erkenntnisse aus höheren Welten, die kritisch zu sehen sind. Auch ist der Umgang vieler Anthroposophen mit ihrem Meister seltsam, weil sie Steiner wie einen Heiligen behandeln, jede Kritik zurückweisen und auf Artikel wie den vorliegenden mit bösen Leserbriefen reagieren. Dabei hat Steiner immer wieder betont: "Ich will verstanden und nicht verehrt werden."

An diese Aufgabe kann uns sein 150. Geburtstag erinnern. Es gibt gute Anregungen in der Anthroposophie – und seltsame Engführungen. In unserer lauten, schrillen und rücksichtslosen Welt stellen jedoch Steiners Bemühungen um eine bessere Landwirtschaft oder um eine kindgemäße Pädagogik besondere Inseln dar. Steiner hat den Menschen als geistiges und entwicklungsfähiges Wesen gesehen. Auch dies ist ein kluger Hinweis. Aber wer sich entwickelt, der kann den Meister auch kritisch sehen. Selbst wenn dieser gerade Geburtstag hat.


Dr. Andreas Fincke arbeitet als Theologe und Publizist in Berlin.