Bis zu 78 mal so viel Dioxin wie erlaubt

Bis zu 78 mal so viel Dioxin wie erlaubt
Im Dioxin-Skandal kommen neue Details ans Licht: Die Grenzwerte wurden teilweise extrem überschritten. Außerdem fand ein Labor schon im vergangenen März Dioxin im Futterfett der Firma Harles und Jentzsch. Doch die Behörden wurden nicht informiert.

Futterfette der in den Dioxin-Skandal verwickelten Firma Harles und Jentzsch aus Uetersen haben den Grenzwert für das Gift extrem überschritten. Es war bis zu knapp 78 Mal so viel Dioxin enthalten wie erlaubt, teilte das Kieler Agrarministerium am Freitag mit. Der Behörde liegen insgesamt bisher 30 Testergebnisse vor. In 18 Fällen war der Grenzwert überschritten.

Das belastete Fett ist außerdem schon länger ins Tierfutter gekommen als bisher bekannt. Bereits im März 2010 habe ein privates Labor erhöhte Dioxinwerte gemessen, teilte das Kieler Landwirtschaftsministerium am Freitag mit. Der Fall hätte sofort gemeldet werden müssen, sagte ein Sprecher. Gegen das Unternehmen ermittelt die Staatsanwaltschaft Itzehoe, am Mittwoch hatte es Razzien gegeben.

Das niedersächsische Agrarministerium lässt prüfen, ob vielleicht Fritteusenfett aus dem Ausland die Quelle für die Dioxin-Belastung von Tiernahrung war. Harles und Jentzsch bekam Fett von dem Biodiesel-Hersteller Petrotec, der Reststoffe aus Imbissen und Fritteusen verarbeitet. In der kommenden Woche solle anhand von Proben geklärt sein, ob Petrotec Altfette bezog, die mit Dioxin belastet waren, sagte Staatssekretär Friedrich-Otto Ripke (CDU).

Staatssekretär: "kriminelle Machenschaften"

Das als Futterfett deklarierte Produkt von Harles und Jentzsch beinhaltete verbotenerweise Abfallprodukte der Biodieselproduktion. Es soll vom Hersteller Petrotec, der Reststoffe aus Imbissen und Fritteusen verarbeitet, an Harles und Jentzsch gegangen sein. Die erste Konsequenz aus dem Fall ist für Bundesagrarministerin Ilse Aigner (CSU) klar. Künftig soll ein Betrieb nicht mehr auf dem selben Gelände Industrie- und Futterfette herstellen dürfen.Ripke sprach von "kriminellen Machenschaften" einzelner Unternehmen in der Branche. Die in den Dioxin-Skandal verwickelten Firmen hätten möglichst viel Gewinn erzielen wollten, sagte er in Hannover.

Viele Verbraucher lassen Eier angesichts des Dioxin-Skandals in den Regalen liegen. Ein Absatzrückgang sei "deutlich spürbar", sagte Margit Beck von der Bonner Marktberichterstattungsstelle MEG am Freitag auf dpa-Anfrage. Die Preisnotierungen an den Lebensmittelbörsen seien "über den Jahreswechsel etwa doppelt so stark zurückgegangen wie im Vorjahr". Ein schwacher Rückgang beim Eier-Absatz ist laut MEG zu Jahresbeginn üblich, weil sich viele Verbraucher gewöhnlich vor den Feiertagen mit Eiern eindecken.

Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) sagte der Nachrichtenagentur dpa zu der möglichen Vertuschung: "Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass das verantwortliche Unternehmen bereits seit Monaten von der Dioxin-Belastung wusste und trotzdem nicht die zuständigen Landesbehörden informiert hat, ist das hochgradig kriminell und völlig unverantwortlich." Sie strebt eine Sondersitzung der Agrar- und Verbraucherminister an.

Aigner: "keine akute Gesundheitsgefahr"

Die Lebensmittelkontrolle ist Ländersache. Bereits kommenden Montag will Aigner Vertreter der Futtermittelbranche, der Landwirtschaftsverbände sowie führende Verbraucherschützer in Berlin treffen, sagte Aigners Sprecher Holger Eichele am Freitag in Berlin.

Bis zu 150 000 Tonnen Futter mit dem krebserregenden Gift Dioxin können Unmengen von Eiern, Geflügel- und Schweinefleisch verunreinigt haben. Das von der Firma gelieferte Fett war von 25 Futterherstellern in vier Bundesländern eingemischt worden. Bisher mussten bundesweit über 4700 Betriebe wegen des Dioxinverdachts gesperrt werden. Die meisten dieser Höfe liegen in Niedersachsen. Dort sind 4468 Betriebe betroffen.

Aigner verlangte notfalls weitere Rückholaktionen der Länderbehörden. "Das Bundesinstitut für Risikobewertung sieht beim gelegentlichen Verzehr belasteter Produkte keine akute Gesundheitsgefahr. Aus Gründen des vorsorgenden Verbraucherschutzes muss allerdings die Belastung mit Dioxinen so weit wie möglich minimiert werden", sagte sie. "Wichtig ist deshalb, dass betroffene Produkte schnell vom Markt genommen werden."

Sonnleitner: "Betriebe schauen in die Röhre"

In Niedersachsen wurden etwa 100 000 Eier vernichtet. In einem Thüringer Schlachthof wurden rund 6,6 Tonnen Fleisch sichergestellt. Die Slowakei verhängte wegen des Dioxin-Skandals ein vorübergehendes Verkaufsverbot für Eier und Geflügelfleisch aus Deutschland. Die ersten niedersächsischen Legehennen-Betriebe dürfen nach ihrem Verkaufsverbot seit Freitag wieder Eier auf den Markt bringen.

Bauernpräsident Gerd Sonnleitner bezifferte den Schaden für die betroffenen Bauern auf 40 bis 60 Millionen Euro pro Woche. Die Zeche sollen die Futtermittellieferanten zahlen. "Sie müssen die Schadensersatzansprüche der Landwirte abgelten. Da werden wir bis zum Letzten gehen", sagte Sonnleitner der "Neuen Osnabrücker Zeitung". "Betriebe, die gesperrt waren, bei denen aber letztlich kein Dioxin nachgewiesen worden ist, schauen in die Röhre." Die Bauern pochen auf einen Millionen-Entschädigungsfonds.

Von den bundesweit rund 4700 betroffenen Betrieben sind 95 Prozent in Niedersachsen. Die Landwirte im Nordwesten rüsten sich jetzt für den juristischen Kampf um die Erstattung ihrer Einnahmeausfälle. Und es braut sich weiterer Unmut zusammen, seitdem klar ist: Neben Geflügelproduzenten sind auch Schweine- und Rinderzüchter betroffen.

Bauern sorgen sich um Jahreseinkünfte

"Wir habe eine richtige Wut im Bauch", klagt Welf Klaer. Der 54- Jährige aus Schneverdingen bei Soltau bewirtschaftet neben 100 Hektar Ackerfläche eine kleine Schweinehaltung mit 65 Sauen, pro Jahr verkauft er etwa 1400 Tiere. "Bis zum Dienstag konnte man mir noch ein gutes neues Jahr wünschen", erzählt er. Dann kam der Anruf, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass auch er belastetes Futtermittel erhalten hatte. 150 Schweine seien sofort aus dem Verkehr gezogen worden. "Ich habe Verständnis für die Verbraucher. Keiner möchte etwas kaufen, was nicht korrekt ist", sagt Klaer. Sollte er die Tiere letztlich töten müssen, verschwänden aber "Einkünfte von einem Jahr".

Ähnlich zerknirscht äußert sich der oberste Landwirt des Landes. "Wir werden ganz sicher mit der Kraftfutter-Industrie reden müssen. Es ist hier Kriminalität am Werk gewesen", schimpft der Präsident des Landesbauernverbands, Werner Hilse. Ein Unternehmen wie der schleswig-holsteinische Fettproduzent Harles und Jentzsch hätte niemals ausliefern dürfen, sagt Hilse. Der Verband lässt nun die rechtliche Lage klären.

Ehe sich konkrete Ansprüche stellen lassen, muss aber zunächst die genaue Schadenshöhe feststehen. Viele Betriebe könnten dennoch auf nicht erstatten Einbußen sitzenbleiben, fürchtet der Bauernchef: "Wir werden mit Sicherheit keinen hundertprozentigen Ausgleich bekommen."

Landwirt: "Wir baden den Skandal aus"

Zu dem vom Deutschen Bauernverband geforderten Entschädigungsfonds geben sich die Niedersachsen vorerst abwartend. Nicht jeder vorsorglich gesperrte Betrieb sei gleichermaßen von der Futtermittel- Panscherei heimgesucht worden, betont Hilse. "Es wird in jedem Fall unterschiedlich sein, ob man Regress bekommen kann." Die derzeit 25 erfassten Lieferanten würden in die Pflicht genommen. Ein Pauschalverdacht gegen die Branche sei jedoch ungerechtfertigt.

Auch Landwirt Wolfgang Ritz warnt davor, die gesamte Futtermittelbranche wegen der Dioxin-Belastungen in Sippenhaft zu nehmen. "Wir sind aber darauf angewiesen, dass wir gutes Futter zugeliefert bekommen. Und wir sind jetzt diejenigen, die den Skandal ausbaden." Der Landwirt aus Kirchlinteln bei Verden kann eine ganze Partie Ferkel nicht an den Kunden bringen. "Nur weil andere so raffgierig sind, muss die Mehrzahl der Landwirte leiden."

Das Muster eines rücksichtslosen Profitstrebens weniger Menschen auf Kosten vieler Betroffener kennt Hilse von früheren Agraraffären. Sobald alle Lieferwege geklärt seien, müssen sich aus seiner Sicht deswegen die Verursacher an der Beseitigung der vergifteten Eier- und Fleischbestände beteiligen. "Wir gehen davon aus, dass auch dieser Schaden von der Kraftfutter-Industrie ausgeglichen werden muss. Die Entsorgung wird Geld kosten." 

dpa