Hier stellt sich besonders deutlich die Frage: "Was zeichnet eigentlich einen guten Gottesdienst aus?" Die Antwort existiert, aber über Nacht ist sie nicht zu haben. Als routinierter Pfarrer, als berufserprobte Pfarrerin kann man einen Gottesdienst und eine Predigt oft auch aus dem Stegreif halten. Das ist an manchen Sonntagen auch gar nicht anders möglich. Die Belastung unter der Woche durch Krankenbesuche, Verwaltungskram, Unterrichtsverpflichtungen lässt mitunter gar keine Zeit, um auch noch den Sonntagvormittag gut vorzubereiten. Schön ist das nicht, aber machbar.
"Schönheit" ist aber genau das Kriterium, das neuerdings an Gottesdienste angelegt werden soll. Dazu hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in Hildesheim das "Zentrum für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst" gegründet, in dem "die Ausstrahlungskraft und die Schönheit des evangelischen Gottesdienstes" im "Gespräch mit theologischer Wissenschaft und kirchlicher Praxis" gestärkt werden soll. Es sucht nach "Kriterien eines guten Gottesdienstes und geeigneten Instrumenten der Qualitätsentwicklung".
Jochen Arnold, der Leiter dieses Zentrums, ist ein ruhiger, überlegter und gleichwohl sympathischer Mann mit einem gewissen Charisma. So einen wünschen sich viele zum Pfarrer ihrer Kirchengemeinde. Seine Vorstellungen von einem "guten Gottesdienst" kann er klug formulieren und im nächsten Augenblick allen verständlich machen.
Große Herausforderung: Die "Adressatenorientierung"
"Im Gottesdienst der christlichen Kirche geschieht Darstellung und Mitteilung der Menschenfreundlichkeit des dreieinigen Gottes. Glaube wird geweckt und vergewissert, Gemeinschaft gestärkt und Gottes Name gelobt." So drückt er akademisch aus, worum es am Sonntagmorgen geht. Aber Arnold möchte auch messbare Kriterien zur Verfügung stellen, mit denen sich nachprüfen lässt, ob ein Gottesdienst schön, gut, gelungen ist. Zu den großen und
herausfordernden Feldern gehören die Beteiligung der Gemeinde, die Musik und die so genannte "Adressatenorientierung".
Dass auf der höchsten Ebene der deutschen evangelischen Kirche offen davon gesprochen wird, dass man die Gestaltung der Gottesdienste an denen orientieren muss, die man erreichen will, ist nicht selbstverständlich. Zwar klingt es trivial, mitunter sogar biblisch, aber lange Zeit galt das genaue
Gegenteil: Der Gottesdienst genüge sich selbst und müsse nicht allen Trends und Moden hinterher rennen. Gottes Reich setzte sich von alleine durch und brauche keine neuen Gewänder.
Ein "Ausverkauf des Evangeliums" wurde schon mal darin gesehen, dass Gemeinden sich an den Bedürfnissen und kulturellen Gepflogenheiten neuer Zielgruppen ausgerichtet haben. Denn das kann gravierende Folgen haben. Wenn junge Erwachsene zu über 90 Prozent Popmusik hören und nur zu einem winzigen Anteil Orgelmusik, muss man dann nicht in den Gottesdiensten zur E-Gitarre
anstatt zum Choralbuch greifen? Wenn junge Erwachsene sich in Kinos zu Hause fühlen, nicht aber in Sakralbauten, muss man dann nicht die Kirchen verlassen und Gottesdienste in den Multiplex-Tempeln feiern?
Beispiel: "Go Special" in Frankfurt-Niederhöchstadt
Was einige Gemeinden erfolgreich zelebrieren - zum Beispiel die Andreasgemeinde Niederhöchstadt bei Frankfurt am Main, die für ihre modernen Gottesdienste "GoSpecial" unlängst sogar im Programm "Deutschland - Land der Ideen" vom Bundespräsidenten ausgezeichnet wurde - stieß lange Zeit auf breite Ablehnung. Aber Klaus Douglas, 20 Jahre lang Pfarrer der Niederhöchstädter GoSpecial-Gemeinde, bringt es auf den Punkt: "Wenn die Kirche nicht mit der Zeit geht, geht die Kirche mit der Zeit". Und irgendwann ist sie dann eben ganz gegangen, weg und für die Gegenwart nicht mehr relevant.
Müssen nun alle Gemeinden ausschließlich auf Popmusik setzen, nur weil die eben im Radio dominiert? Jochen Arnold würde widersprechen. Vielmehr gehe es darum, "klassische und Popmusik ästhetisch aufeinander abzustimmen", verkündet er bei einem Referat auf dem Münchener Kirchentag. Schließlich ist Gottesdienst nicht nur, aber auch ein Gegenpol zum Alltag. Ein Ort, an dem man inmitten der Arbeitshektik zur Ruhe kommen können soll. Da tut Klassik selbst denen gut, die sonst mit Bratsche und Violoncello weniger am Hute haben.
Vor allem aber rückt Arnold die Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst in den Mittelpunkt. Und zwar in Vorbereitung und Durchführung. Ganz im Gegenteil zu einem geheimen Wahlspruch vieler Pfarrerinnen und Pfarrer: "Selig sind die Beene, die vor dem Altar steh'n alleene", ulkt man unter Geistlichen. Ehrenamtliche, die eine Schriftlesung, die Begrüßung oder auch Mitteilungen übernehmen bedeuten schließlich ein Risikopotenzial, so die verbreitete Meinung. Auf der anderen Seite gilt aber auch: Die One-Man-, One-Woman-Show ist für Besucher oft schwer zu ertragen. Wie angenehm, wenn dann mehrere Menschen den Gottesdienst gemeinsam gestalten!
Gemeinde wächst von allein
Schon bei der Vorbereitung der Gottesdienste setzt Arnolds Konzept zur Qualitätsentwicklung aber an. Wenn Gruppen sich eigenständig um eine liebevolle Dekoration des Kirchraumes kümmern, wenn sie die musikalische Gestaltung eigenverantwortlich in die Hand nehmen oder wenn sie gar an den
Überlegungen zum Predigttext beteiligt werden, dann steigt die Lust, an diesen Gottesdiensten teilzunehmen. Das wiederum spüren neue Besucher denen ab, die schon da sind. Gemeinde wächst, so die Theorie, unter diesen Bedingungen fast von alleine. Und das ist dann vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass die Gottesdienste gelungen sind, "schön" eben, wie man in Hildesheim sagt.
Das Problem schöner Gottesdienste löst kein Pfarrer über Nacht, schon gar nicht im Laufe eines 24. Dezember. Was das Zentrum für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst in Hildesheim fordert, sind langfristige Entwicklungen und Maßnahmen, die sich dann in jeder einzelnen Feier niederschlagen. Allen, die jetzt noch den Stress haben, Weihnachtsgottesdienste durchführen zu müssen,
könnte man für die Zeit zwischen den Jahren die Muße wünschen, über solche Maßnahmen und Entwicklungen in Ruhe nachzudenken. Doch halt, war da nicht was? Richtig: Gleich nach Weihnachten steht schon Ostern vor der Tür. Und auch das kommt am Ende, leider, urplötzlich.
Ingo Schütz arbeitet als Pfarrer in der Evangelischen Kirchengemeinde
Oberrod im Taunus und hat sich ganz fest vorgenommen, nächstes Jahr früher
anzufangen mit der Vorbereitung der Weihnachtsgottesdienste.