Es ist hundekalt an diesem Montagabend in der Dresdner Neustadt. Die Sakristei der Dreikönigskirche ist hell erleuchtet. Drinnen sitzen 22 Leute an improvisierten Tafeln und tauchen ihre Löffel in Teller voll dampfender Suppe. Am Tisch direkt neben einem kleinen Altar herrscht Heiterkeit. Vier Männer und eine Frau sitzen um das Tischende herum, essen, trinken Tee und spekulieren, ob Locke (46) seine Irina (48) bald heiraten wird. Seit über zwölf Jahren lebt Locke auf der Straße. Jetzt kann er manchmal bei Irina und ihren zwei Katzen übernachten. Ihr ist es daheim zu einsam, deshalb kommt sie zu ihren Kumpels ins Nachtcafé, um mit ihnen zu quatschen und Skat zu spielen.
Klaus würde draußen erfrieren
Klaus, mit 22 Jahren der Jüngste in der Runde, hat keine Wohnung. Der kindlich-lustige junge Mann im roten Pullover, der sich die Haare bis auf einen Mittelstreifen von der Stirn zum Nacken abrasiert hat, ist seit vier Jahren obdachlos. Ungefähr genauso lang ist es auch her, dass seine Eltern gestorben sind. Jetzt – bei minus 13 Grad – würde er draußen erfrieren. "Im Winter komme ich jeden Tag ins Nachtcafé", sagt er. "Das Essen ist gut hier." Locke, der sein Vater sein könnte, gibt ihm Recht: "Bei diesen Temperaturen kann man froh sein, wenn man abends überhaupt was Warmes hat."
Morgen abend werden Klaus, Locke und Irina sich wieder in warmen Kirchenräumen treffen. Dann aber nicht in der Dreikönigskirche: Außer ihr öffnen reihum noch sechs weitere Dresdner Gemeinden ihre Räume, um Bedürftigen von 20 Uhr bis morgens 7 Uhr warmes Essen, Getränke und eine sichere Unterkunft zu bieten. Sie alle verfügen über Nachtlager für bis zu 25 Personen, über Bettzeug, Duschen, Waschmaschine und Wäschetrockner. In diesem Jahr engagieren sich vier evangelisch-lutherische und zwei katholische Gemeinden sowie die Heilsarmee. Ökumene wird hier nicht beschworen, sondern praktiziert – zum Wohl der Menschen ohne Wohnung.
Viele ehrenamtliche Helfer
Die Küchen-, Reinigungs- und Betreuungsarbeiten teilen sich etwa 170 Ehrenamtliche. Unter ihnen sind engagierte Gemeindemitglieder, aber auch Nichtchristen. Zwei Ärzte, eine Friseurin und eine Fußpflegerin machen jeden Monat kostenlose Überstunden im Nachtcafé. Durch dieses persönliche Engagement und die Geld- und Sachspenden von Dresdner Bürgern, Kirchen, Vereinen, Firmen und Großküchen sind die Nachtcafés unabhängig vom Budget der Kommune.
Volker Wendlandt (68) von der lutherischen Kirchgemeinde des Stadtteils Loschwitz koordiniert den Gesamtablauf. Der freundliche, weißhaarige Ingenieur hat das Projekt mit aufgebaut. Viele Stammgäste kennt er persönlich. "Obdachlosigkeit ist besonders im Winter ein schlimmes Schicksal", sagt er. "Den Betroffenen fehlen Geborgenheit, Wärme, Pflege und ein sauberes Nachtlager. Das versuchen wir ihnen in den Nachtcafés zu geben."
Die Saison beginnt jeweils am 1. November und dauert bis zum 31. März, bei andauerndem Frost auch etwas länger. Koordinator Wendlandt hat in den vergangenen Jahren recherchiert, ob in anderen deutschen Großstädten ähnliche Projekte bestehen. "Dass wir so etwas den ganzen Winter hindurch täglich anbieten, und zwar kontinuierlich seit 1995, ist bundesweit einmalig." Die kirchlichen Träger verstünden die Nachtcafés lediglich als Ergänzung des städtischen Angebots. Für die Unterbringung Wohnungsloser sei das Sozialamt zuständig. Dessen Kapazitäten reichten aber nicht immer aus, so Wendlandt.
Kein Papierkram nötig
Außerdem finde in den städtischen Heimen nur Aufnahme, wer zuvor mit viel Papierkram seine Verhältnisse offengelegt habe, sagt der 68-Jährige. Das sei in den kirchlichen Nachtcafé nicht nötig: "Wir erfassen die Leute nicht. Hier kann jeder kommen, der bedürftig ist." Aber es gibt auch in den Kirchen ein paar Hausregeln: kein Alkohol, keine Drogen und Rauchen nur vor der Tür. Die Gäste zahlen einen symbolischen Euro und werden gebeten – soweit sie es können – beim Tischdecken und Saubermachen am nächsten Morgen mitzuhelfen.
In der Dreikönigskirche ist es inzwischen nach 22 Uhr: Oben in der ersten Etage steht Mitarbeiter Reinhard Voigt (63) im Lagerraum und gibt den in der Schlange stehenden Übernachtungsgästen ihr Bettzeug aus: eine Isomatte, frische Bezüge und Decken. "Ich kam zum Nachtcafé wie die Jungfrau zum Kind", erzählt der gelernte Designer. "Ich war arbeitslos – bis ich das Angebot erhielt, hier mitzuarbeiten. Es war eine willkommene Aufgabe für mich." Jetzt ist Voigt einer von drei ehemaligen Arbeitslosen, die als Stammhelfer fast täglich dabei sind – und dafür vom Staat mitfinanziert werden. Zu ihren Aufgaben zählt die Nachtwache und das Essenholen am Nachmittag. Außerdem beraten sie die Obdachlosen, wer ihnen bei Job- und Wohnungssuche behilflich sein kann.
[listbox:title=Mehr im Netz[Radiobeitrag des Senders ERF zur diesjährigen Nachtcafé-Saison##Berichte zum Nachtcafé auf den Seiten der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde Dresden-Loschwitz]]
Heute abend braucht Wies?aw (29) Hilfe. Der schlaksige junge Pole mit Militaryhose und kleinem Outdoor-Rucksack, hatte beim Abendessen mit verschämtem Blick still am Ende der Tafel gesessen. Er spricht kaum Englisch und nur ein paar Brocken Deutsch. Er habe in Poznàn als Dachdecker gearbeitet und sei vor kurzem wegen seiner Freundin nach Dresden gekommen. Aber, so erzählt er stockend, sie habe ihn hier sitzen lassen. Nun steht er ohne Job und ohne Dach über dem Kopf da. Auch in Polen habe er keine Familie mehr, sagt er. Reinhard Voigt gibt Wies?aw die Adressen der Beratungsstellen. "Ich freue mich, wenn der ein oder andere durch Anregung von uns wieder in die Spur findet", sagt der Helfer. In der vergangenen Saison halfen Nachtcafé-Mitarbeiter mit, dass vier Obdachlose wieder eine Wohnung bekamen.
Den Trägern sei bewusst, so Koordinator Volker Wendlandt, dass Nachtcafés die Situation der Obdachlosen meist nur lindern könnten. Das Problem müsse an der Wurzel gepackt werden. "Deshalb wollen wir keine Strukturen schaffen, die Abhängigkeit und Unselbständigkeit fördern." Das kirchliche Angebot sei als Anfang einer Hilfskette gedacht: "Wir wollen die Voraussetzung schaffen für einen Anschluss an das Hilfenetz", so Wendlandt. Zugleich baue die Mitarbeit so vieler Dresdner eine Brücke zwischen Menschen verschiedener sozialer Gruppen. "Unsere Nachtcafés sollen Orte der Begegnung sein."
Martin Rothe ist freier Journalist, hat unter anderem Religionsgeschichte studiert und die Evangelische Journalistenschule in Berlin absolviert. Seine Schwerpunktthemen sind Integration und Islam.