Die Lust der Grauen - Sexualität in der Pflege

Die Lust der Grauen - Sexualität in der Pflege
Auch alte Menschen haben sexuelle Bedürfnisse. Wenn sie obendrein noch dement sind, kann das problematisch werden - auch für ihre Betreuer. Eine Psychologin berichtet.
26.10.2010
Von Cornelia Kurth

Nicole Richards ist Diplom-Gerontopsychologin. Ihr Fachgebiet ist die Psyche geistig verwirrter alter Menschen, ihre Vorträge und Seminare gelten dem angemessenen Umgang mit Alzheimer- und Demenz-Patienten in Pflegeeinrichtungen. Wenn sie aber vor ihrem Publikum, den überwiegend weiblichen Pflegekräften in diesen Einrichtungen, erscheint, dann könnte man sie glatt für eine Kabarettistin halten. Ohne Scheu gibt sie einer Fachtagung im Kreishaus Stadthagen den provokanten Titel: "Schwester, rubbel etwas fester!" und bringt damit das Tabu-Thema "Sexualität in Pflegebeziehungen" auf den Punkt. Die zentrale Frage: Wie geht man mit geistig verwirrten Senioren um, die auf oft drastische Weise Sex und Liebe einfordern?

"Die meisten sagen sich doch: Alte Menschen mit Demenz, ist es bei denen mit Sex nicht mal vorbei?", beginnt sie ihren Vortrag. "Doch wir wissen alle aus unserem Pflegealltag: Nein, das ist es nicht!" Allerdings gebe es in kaum einer der mehr als 10.000 Pflegeeinrichtungen Deutschlands ein Sexualitätskonzept und entsprechenden Leitlinien.

Die Pflegekräfte stünden mit dem Problem allein da und wüssten oft überhaupt nicht, wie sie handeln sollen und dürfen. Beim Waschen an gewissen Körperteilen wirklich "etwas fester rubbeln"? Den alten Leuten einen Porno besorgen oder sie zu Beate Uhse begleiten? Liebeszimmer einrichten und den Angehörigen irgendwie verklickern, dass der Vater mit einer neuen Frau sehr glücklich ist, während vor der Tür die angetraute Ehefrau steht und es nicht fassen kann?

Betagte Busengrabscher

"Sexualität gehört inzwischen auch im Alter eigentlich zur Normalität", meint Nicole Richards und zeigt dafür nicht nur Statistiken und anrührende Bilder von verliebten Alten, sondern auch ein eher drastisches Szenenfoto aus Sönke Wortmanns Film "Wolke 9". "Na und?", sagt sie. "Hat nicht jeder das Recht, nach Liebe und Sex zu streben?" Die Sache sei aber, dass die demenzkranken Alten die Kontrolle über ihren Verstand verloren hätten. Wo sie sich wenige Jahre zuvor noch ganz normal benommen hätten, übernähmen aufgrund der Krankheit ungesteuerte Gefühle und Affekte die Regie.

So könne es eben vorkommen, dass eine ehemalige Lehrerin in der Zimmerecke steht und laut schreiend nach Sex verlangt, dass ein netter Alter wo auch immer er eine Frau sieht die Hosen runterlässt oder ein anderer im Flur lauert, um vorübergehenden Pflegerinnen an den Busen zu grabschen. Aus ihrer eigenen Erfahrung als Leiterin eines Seniorenheims für Demenzkranke schildert sie den Fall eines Alzheimer-Patienten, der über Tage hinweg auch in Gegenwart der Pfleger damit beschäftigt war zu masturbieren: "Sein 'Willi' war schon ganz rot." Schließlich besorgten sie ihm eine "Vorlage", die sie an die Zimmerwand projizierten. Dann endlich gelang das Gewünschte.

Angst vor Sexthemen

Es sind durchaus krasse Situationen, die Nicole Richards anspricht, ohne dabei lange nach umschreibenden Worten zu suchen. "Ich tue das, weil sonst kaum jemand darüber redet", sagt sie und erzählt gleich, wie sie sich mit großer Einkaufstasche in einem Sexshop umsah, um allerlei Hilfsmittel einzukaufen, die auch für demente Patienten in Frage kämen. Das eigentliche Problem bestehe darin, dass die Betreiber von Pflegeeinrichtungen solch eine Vorgehensweise meistens nicht duldeten. "Die haben Angst vor Sexthemen und davor, dass Angehörige sagen: "Da gebe ich meinen Vater doch nicht hin? Dildos? Beate Uhse? Liebeszimmer? Das fehlte noch!" Überhaupt die Angehörigen: Für die sei das Thema ebenfalls tabu. "Wer denkt schon gern genauer darüber nach, dass auch die alten Eltern sexuelle Wesen sind?"

Erstaunlicherweise handelte ihr langes Referat nur auf den ersten Blick von "Sexualität in Pflegebeziehungen". Dahinter steckte die allgemeine Frage, wie man Alzheimerpatienten und andere demente Senioren überhaupt irgendwie so ansprechen kann, dass man sie auch ohne einen argumentierenden Dialog erreicht. Nicht nur in Sachen Sexualität haben die Kranken ja ihre Anbindung an den Alltag und eine vernünftige Kommunikation verloren. Auch in allen anderen Alltagsorientierungen fehlt ihnen der Kompass, der ihr Leben in geregelte Bahnen leitet.

Tragikomische Szenen

Auf bewegende Weise und mit viel schauspielerischem Talent spielt Nicole Richards tragikomische Szenen vor: Ein altes Weiblein, das unbedingt nach Hause will, obwohl sie doch gar keines mehr hat; eine andere Alte, die sich laut fluchend darüber beschwert, dass man angeblich ihr Zimmer verwüstet hat; ein Mann, der störrisch etwas zu essen verlangt, obwohl er doch gerade gegessen hat. Man sei dann, weiß die Psychologin, geneigt zu sagen: Erinnern Sie sich denn nicht? Denken Sie doch mal nach! "Doch genau das können die Dementen nicht mehr."

Ihre Methode zur Deeskalation solcher typischen Situationen ist ein längst ausgefeiltes Konzept mit dem Namen: "Integrative Validation". Validation bedeutet hier, die Gefühlsäußerungen eines verwirrten Alten grundsätzlich wertzuschätzen und sie auch dann ernst zu nehmen, wenn sie sich auf eine längst vergangene Realität oder auf Einbildungen beziehen.

Nicht korrigieren, nicht bewerten

Das Stichwort "integrativ" bezieht sich auf einen Pflegeansatz, der sich bemüht, den Patienten wieder das Gefühl zu geben, bei sich selbst zu sein. "Wir korrigieren und bewerten nicht die Dinge, die die Verwirrten sagen", darauf legt Nicole Richards Wert. "Das können sie nicht mehr verstehen. Wir geben ihnen eine Rückmeldung über das Gefühl, das sie bewegt und das unzweifelhaft real ist." Dann, erst dann, könne es darum gehen, ein Verhalten zu ändern.

Und wie ist das nun mit den sexuellen Wünschen von geistig desorientierter alter Mensche? Oft undramatischer als befürchtet. Oft, hat Richards beobachtet, leben Alzheimerpatienten in einer Welt, in der sie in der Blüte ihrer Jahre stehen und sich Dinge zutrauen, zu denen sie in Wirklichkeit gar nicht mehr fähig sind - oder die sich in Wahrheit gar nicht mehr wünschen. "Der Wunsch nach Sex ist in den allermeisten Fällen einfach der Wunsch nach Beachtung, Liebe, Geborgenheit." Und der ist nun wirklich ganz normal.


Cornelia Kurth ist freie Journalistin im südwestlichen Niedersachsen.