Freigehalten

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Freie Plätze am Geburtstagstisch: Einladung und Erinnerung zugleich.

„Oft werde ich in diesen Tagen gefragt, wie man eigentlich 90 Jahre alt wird“, erzählt mein Großvater in der Rede zu seinem 90. Geburtstag. Seine Antwort: "Man wird 90, wenn man 1927 zur Welt kommt.“ Opas Gäste lachen. Alle sind seiner Einladung gefolgt. Gerne. Denn es ist etwas besonderes, wenn man jemanden in solch hohem Alter trifft und der Anlass dafür keine Beerdigung ist.

Opa feiert das Leben. Und er macht kein Dinner for One, sondern lädt uns alle ein. An diesem Tag, in einem Restaurant etwas außerhalb der Stadt, stolpert kein betrunkener Butler über einen Tigerteppich und es ist nicht alles „the same procedure as every year“. Trotzdem gibt es Ähnlichkeiten zum Silvester-Klassiker: Auch an Opas Geburtstagstischen bleiben ein paar Stühle unbesetzt. Der Wirt hat ihm dazu geraten: „Lassen Sie an jedem Tisch zwei Plätze frei, damit Sie und Ihre Frau einfach nach jedem Gang den Tisch wechseln können. So haben Sie Gelegenheit, mit all Ihren Gästen ins Gespräch zu kommen.“

Wir Enkel haben gleich zur Vorspeise das Vergnügen, mit Oma und Opa an einem Tisch zu sitzen. Kurz bevor der Hauptgang serviert wird, trinken die zwei vergnügt noch ein Gläschen Wein auf ihr und unser Wohl und wechseln dann an einen anderen Tisch.

Zwei Plätze sind in unserer Mitte nun frei. Und sie erinnern mich daran, dass Oma und Opa nicht ewig bei uns sein werden. Es ist ein Geschenk, so viele Lebensjahre mit ihnen teilen zu dürfen. Wie viele noch kommen werden? Wir wissen es nicht.

Auch an den anderen Tischen sind die freien Stühle immer wieder Einladung und Erinnerung zugleich. Hier ist gerade ein Platz frei. Setz dich dazu. Du bist willkommen. Oder: Da saß gerade noch ein anderer. Weißt du noch?

Ein bisschen scheint es, als spielten wir an diesem Tag „Reise nach Jerusalem“. Immer wieder wechseln auch die Gäste den Platz, teilen Köstliches und Kostbares miteinander und prosten dem Geburtstagskind zu.

Und ich überlege, wie das wäre: Wenn auch ich in meinem Leben –nicht nur zum Geburtstag –Plätze freihalten würde. Am Tisch oder im Kalender. Als Einladung für die, die kommen und als Erinnerung an die, die gehen.

Vielleicht würde mir das Willkommenheißen ein klein wenig leichter fallen. Und das Abschiednehmen auch.

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