Wie im Himmel so auf Erden

Wie im Himmel so auf Erden
Beten zu können und beten zu dürfen, ist ein großes Privileg des Christentums. Immer wieder.

Auf der Karl-Marx-Straße wird gebaut. Gefühlt seit Jahren schon. Kein Durchkommen für Autofahrer, Radfahrer, Fußgänger. Es wird gehupt und gepöbelt. Zeit ist kostbar. Hier scheint sie verloren zu gehen. Das fällt mir besonders auf, als ich mit Einkäufen bepackt, den Bürgersteig entlanglaufe und meinen Gedanken nachhänge. Sie werden unterbrochen von den aufrüttelnden Klängen eines Martinshorns. Mit einem Mal bin ich ganz Ohr. Ein Krankenwagen kommt angerast und bleibt stehen. Weil die Straße aus Stau besteht. Kein Durchkommen, keine Ausweichmöglichkeit, keine Rettungsgasse. Fast scheint es, als würde die Sirene immer lauter werden. Immer dringlicher, als wollte sie schreien:  „Macht endlich Platz. Hier geht es nicht bloß um Zeit, hier geht’s ums Überleben!“ Ich stehe hilflos daneben. Unendlich lange Sekunden vergehen. Autofahrer gestikulieren wild. Ein paar Autos holpern nun auf den Bürgersteig, versuchen verzweifelt Platz zu schaffen für den Rettungswagen. Ich stehe da. Ganz starr vor Schreck und beginne zu beten. Ohne Stimme, nur in meinem Kopf formen sich Worte:

„Möge alles gut werden. Möge es nicht zu spät sein. Mögest du da sein, Gott. Bitte.“  

Es dauert eine halbe Ewigkeit bis der Weg endlich frei ist und der Rettungswagen zur Unfallstelle eilen kann. Ob mein Gebet erhört wurde, kann ich nicht sagen. Aber irgendwie fühle ich mich ein winziges bisschen leichter. Passiv, wie ich war, hat mein Kopf, hat mein Herz, auf Autopilot geschaltet. Meine Sorge, mein Bitten wurde umgeleitet. In größter Hilflosigkeit war ich nicht allein.

Und so ging es mir schon oft. Ich entscheide mich nicht immer bewusst dafür zu beten, viel eher stelle ich später fest, dass sich in mir Worte als Bitte und zum Dank gebildet haben, hinter die ich ein „Amen“ setzen könnte. Adressiert an den Höchsten, an die Nächste, irgendwo zwischen Himmel und Erde.

Beten zu können und beten zu dürfen, das ist etwas, was ich besonders an meiner Religion schätze. Ich muss nicht alles mit mir selbst ausmachen. Nicht alles liegt in meiner Hand. Nicht alles lastet allein auf meinen Schultern. Nicht für alles bin ich verantwortlich. Ich darf bitten. Um Hilfe. Um Zuversicht. Um Nähe. Ich kann danken für Schöpfung und für Schönes. Für Versöhnung und für Veränderung.  Für Kaffee und für Küsse.

Worte für meine Gebete zur Verfügung zu haben, wie tägliches Brot, das macht mich reich. Und wenn mir die Worte fehlen, darf ich mir welche leihen. Dein Wille geschehe. Der Friede sei mit dir. Segne, Vater, diese Gaben. Wie im Himmel, so auf Erden.

Amen.

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