Ich bin auf dem Weg von Berlin nach Hildesheim, als der ICE plötzlich zum Stehen kommt. Wir sollten uns nicht wundern, sagt der Schaffner durch die Lautsprecher, dies sei ein planmäßiger Halt. Aufgrund von Bauarbeiten hätten wir nun eine halbe Stunde Aufenthalt in Wolfsburg. Sofort macht sich Gemurmel breit. Verständnisloses Kopfschütteln. Die Deutsche Bahn eben. Mal wieder. Wäre ja auch zu schön, wenn alles einfach glatt laufen würde. Erst langsam wird den Fahrgästen klar, was der Schaffner da wirklich gerade gesagt hat: Es sei ein planmäßiger Halt. Er ist im Fahrplan vorgesehen. Niemand wird durch diese halbe Stunde seinen Anschlusszug verpassen. Keine Verliebten oder Verwandten müssen irgendwo auf Bahnsteigen ausharren und auf die Ankunft der Reisenden warten. Niemand hat auf den Schienen seinem Leben ein Ende bereitet. Es gibt keinen Unfall. Keinen Anschlag. Keine Sturmschäden. Bloß eine Baustelle, die zur Haltestelle wird.
Wie nach einem Dornröschen-Schlaf scheinen die Fahrgäste um mich herum aus ihrer Starre zu erwachen. Langsam dämmert uns allen, was dieser Halt für uns bedeutet: 30 Minuten zum Beine vertreten. 30 Minuten für einen Kaffee an der frischen Luft. Mit Milch und mit Sonne. 30 Minuten, um mit den Enkelkindern auf der Bahnsteigbegrenzung "Himmel und Hölle" zu spielen. Oma Erika hüpft dabei wie ein junges Mädchen.
Nicht nur die Raucher verlassen den Zug. Immer mehr Reisende erheben sich von ihren Plätzen. Ich gehe mit. Eine halbe Stunde lang halte ich das Gesicht in die Sonne, sehe zu, wie ein Pärchen am Bahnsteig miteinander tanzt. Sie üben ihren Eröffnungstanz, verraten sie mir. In zwei Wochen wird geheiratet. Ein Mann im feinen Anzug nutzt die Pause zum Telefonieren. Endlich hat er mal störungsfreien Empfang. Eine junge Frau hält an beiden Händen ihr Kleinkind fest. Noch etwas wackelig setzt der Kleine Füßchen vor Füßchen und lässt dann plötzlich los. Ob seine Mutter ihm einmal erzählen wird, dass er an einem Bahnsteig das Laufen gelernt hat? In einer halben Stunde? Planmäßig und doch irgendwie überraschend?
Es ist die halbe Stunde, die in meinem Leben schon so oft eine Rolle gespielt hat und deren Bedeutung ich doch irgendwie vergessen hatte. Als Kind waren 30 Minuten die erste Zeiteinheit, die ich durchschaut zu haben glaubte, so oft lauteten die Worte meiner Eltern auf die Frage "Wie lange noch?" – "Eine halbe Stunde." Bevor ich die Uhr lesen konnte, hieß das übersetzt: So lange wie "Die Sendung mit der Maus" dauert. Aufs Essen mussten wir grundsätzlich immer 30 Minuten warten und bis wir irgendwo ankamen, war jedesmal eine halbe Stunde vergangen. Glaubte ich jedenfalls. Umgekehrt nutzte ich die halbe Stunde aber auch für mich. Wann ich ins Bett gehen würde? - In einer halben Stunde. "Bitte, bitte, dürfen wir noch eine halbe Stunde spielen?" Ich habe diese Zeit oft geschenkt bekommen. Vielleicht, weil sie überschaubar ist. Sie tut niemandem weh, aber vielen gut.
An diesem Tag, auf dem Bahnsteig von Wolfsburg, fällt mir die halbe Stunde wieder ein. Sie fällt mir zu. Als geschenkte Zeit. Als Pause. Ich kann gerade nichts anderes tun, als zu warten. Nichts anderes, als an meinem Cappuccino zu nippen, ein wenig auf und ab zu gehen, und zu beobachten, was die Menschen um mich herum mit dieser Zeit anfangen. Es sind 30 Minuten, die niemandem zu gehören scheinen, die einfach da sind, ohne Zweck. Die niemandem gestohlen wurden und deswegen nicht ungeduldig werden lassen. Oder wütend. Weil sie eingeplant sind und doch ein wenig überraschend daherkommen. Die halbe Stunde, die einem an anderen Tagen so oft zu fehlen scheint, ist plötzlich da. Eine heilige Unterbrechung.
"So, alle einsteigen, bitte", weist die Schaffnerin uns nach 30 Minuten an. "Das Leben geht jetzt weiter." Irgendwie hat sie Recht damit.