Entwicklungen wie Digitalisierung und Globalisierung tragen dazu bei, dass viele bis alle Zusammenhänge schnell und nachhaltig immer noch komplizierter werden. Hülfen also Vereinfachungen?
Allenfalls bedingt. Meist betreffen sie ja nur Nutzeroberflächen, die für ihre Zielgruppen ausblenden bzw. verschleiern, was darunter abläuft. Das hilft beim Anwenden, schafft aber meist mindestens so viele Probleme, wie es vielleicht löst. Zwei tagesaktuelle Beispiele:
"Alles, was der BND macht, wird einfach legalisiert. Und sogar noch ausgeweitet",
fasst netzpolitik.org den Entwurf fürs neue BND-Gesetz zusammen (der im 71-seitigen Original auf bundesregierung.de den Namen "Entwurf eines Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes" trägt). Die komplexe noch bestehende, aus der häufig akribischen Nischenberichterstattung vor allem über den NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags bekannte Rechtslage soll offenbar erheblich vereinfacht werden. "Alles, was durch Snowden und Untersuchungsausschuss als illegal enttarnt wurde, wird jetzt einfach als legal erklärt", schreibt André Meister.
In der Berichterstattung der großen, noch am ehesten Meinung stiftenden Medien haben schon die bisherigen rund 100 Sitzungen dieses Ausschusses nicht gerade Haupt-, sondern eher kleiner werdende Nebenrollen gespielt. Insofern würde sich mit der Annahme, dass dieser Gesetzesentwurf vergleichsweise wenig umstritten sein und in ungefähr dieser Form durchkommen wird, niemand weit aus dem Fenster lehnen.
[+++] "Weil es für jeden einzelnen Facebook-Nutzer zu viele Informationen gibt, als dass er sie alle anschauen könnte",
macht es außerdem Facebook für seine in Milliarden zu zählenden Nutzer jetzt noch einfacher.
"We’ve heard from our community that people are still worried about missing important updates from the friends they care about",
heißt das im gruseligen kalifornischen Originalsound. Die darüber zitierte deutschsprachige Einschätzung stammt von Johannes Boie, der auf der SZ-Medienseite eine erste Analyse dieser Facebook-Ankündigung anstellt.
"Dementsprechend werden Inhalte, die nicht von 'Freunden, die dir wichtig sind' stammen, künftig weniger angezeigt werden. Das wird vor allem Verlagsinhalte betreffen, denn Facebook ist längst der größte Verbreiter von Nachrichten geworden",
lautet eine zentrale Aussage. Es liegt schon eine weitere ausführliche Analyse vor. Schließlich müssen US-amerikanische Algorithmusänderungen im deutschen Onlinejournalismus längst immer Alarmglocken schrillen lassen. Patrick Beuth formuliert es bei zeit.de so:
"Nun aber befürchtet oder bemerkt Facebook offenbar, dass ein von Nachrichtenangeboten dominierter Newsfeed nicht zu aktiveren Nutzern führt. Das Unternehmen erhofft sich vom geänderten Algorithmus vermutlich, mit Videos, Fotos, Status-Updates, Links und anderen Inhalten von einzelnen Freunden mehr Aufmerksamkeit zu erzeugen"
als mit dem Stoff, den journalistische Medien, die keine engen Freunde ihrer Leser, Zuschauer und Nutzer sind, raushauen (egal, wie suchmaschinen- und Pagerank-optimiert er längst ist).
"Die Neuerung bedeutet für Medienunternehmen nichts Gutes – ihre Beiträge treten in den Hintergrund. Facebook animiert sie dazu, vornehmlich Inhalte aufzubieten, die Nutzer an Freunde weiterleiten können",
heißt es knapp auf der Medienseite der FAZ, deren Online-Chef erst kürzlich (Altpapier) wg. Facebook sein Unbehagen darüber äußerte, "dass wir uns mit einer Großmacht ins Bett legen". Ob die journalistischen Medien, die durch "Instant Articles"-Kooperation bereits tief bei Facebook eingebettet sind, bei der nächsten Algorithmus-Veränderung bevorzugt werden oder Facebook sich im Namen seines viel viel größeren Ganzen darum nicht schert, dürfte für diese Medien spannend werden.
"We encourage Pages to post things that their audience are likely to share with their friends. As always, Pages should refer to our publishing best practices",
lautet jedenfalls Facebooks Ratschlag. An dieser Stelle ließe sich noch einfügen, dass Facebook in Europa immerhin viel Geld in Anwälte steckt und so mit obskurer Begründung im auch komplexen, aktuell nicht gerade blühenden Organismus EU just einen juristischen Erfolg erzielt hat (vereinfacht gesagt: In Belgien gilt doch doch bloß das schwache irische Datenschutzgesetz, SPON). Aber das würde weder Überblick erleichtern, noch zum Teilen einladen ...
[+++] Hier eine schön einfache Zusammenfassung der Lage des Journalismus:
"Neulich in der Handelskammer Hamburg, am Rande eines der zahlreichen Medienkongresse. 'Wie läuft’s bei euch?' fragt ein Mann einen Redakteur des Hamburger Abendblatts. 'Ach, Dauerkrise', seufzt der Funke-Mann. Er hoffe darauf, dass Verlagsjournalismus künftig 'öffentlich-rechtlich' oder über Stiftungen finanziert werde. Wenn schon ein Redakteur einer traditionsreichen Zeitung pessimistisch in die Zukunft blickt, kann man sich vorstellen, wie die Stimmung bei verlagsunabhängigen Lokalmedien ist ..."
Das schreibt René Martens, der als Altpapier-Autor ja abgebrüht ist, in der TAZ über hyperlokale Blogs. Anlass ist das Aufgeben von hh-mittendrin.de (siehe Altpapier) und eines weiteren, Wilhelmsburger Blogs in seiner Heimatstadt Hamburg.
Inzwischen stiften "die geringe Bereitschaft, für Online-Inhalte zu zahlen, und die schwachen Werbeerlöse" Gemeinsamkeiten zwischen Journalismusmodellen, die nichts miteinander zu schaffen hatten bzw. in scharfer Abgrenzung zueinander entstanden waren, weil journalistische Medien im Internet nur ein Contentspender unter sehr sehr vielen sind, ließe sich leicht, äh, vereinfachend sagen. Bevor Sie nun aber denken, Renés Artikel sei ein reiner Runterzieher, den Sie besser nicht mit Freunden teilen: Nicht nur wie immer vom Tegernsee, sondern auch aus Hamburg-Eimsbüttel erklingen auch positive Stimmen.
[+++] Was oft hilft, wenn die Gegenwart unschön ausschaut: ein im Rückblick schönes Kapitel Vergangenheit.
Stefan Aust wird heute 70, herzlichen Glückwunsch, und was für eine Erfolgsgeschichte, die ja noch läuft! Offenbar hat die DPA im hellen Licht der "meterhohen Glasfenster seines Berliner Büros" (DPA-Bericht im erwähnten Abendblatt) im Springer-Hochhaus zum Geburtstag eine Fotosession mit dem fotogenen Jubilar gemacht. Das zeigt sich beim Blick in den Tagesspiegel, wo Markus Ehrenberg dann aus dem großen Die Zeit-Interview zitiert, dessen Vorspann, wie gestern hier erwähnt, erst mal mit dem hellblauem Button-down-Hemd einsteigt, das Aust auf den DPA-Fotos ebenfalls trägt, bevor es dann um Hitler, Porsches, Pferde und natürlich den Spiegel geht (Blendle-Link).
"Spielerisch leicht zum Wesentlichen zu kommen, das ist eine der Stärken von Stefan Aust", lobt Michael Hanfeld launig auf der FAZ-Medienseite ("Der junge Chefredakteur wird heute siebzig"). Und bevor zufällig hier vorbeigekommene Leser den Eindruck mitnehmen, Stefan Aust sei oder ginge in Rente: mitnichten, er ist Chefredakteur der Welt. Bzw. doch nicht ganz, sondern wie es Fritz Wolf im epd medien-Tagebuch (noch nicht frei online) nennt: "Chefredakteur von Deutschland".
[+++] Die Abgeschlossenheit vergangener Kapitel erlaubt es, darüber sicherer zu urteilen als über laufende Entwicklungen? Auch nicht immer, wie aktuell (auch anhand des Spiegels sowie Austs) Wolfgang Michal in seinem Blog herausarbeitet. Dort hat er den US-amerikanischen Historiker interviewt, dessen Buch "Der Reichstagsbrand" er kürzlich im Freitag besprach. "Während Ex-Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust in der Welt am Sonntag fünf Druckseiten für Hetts Buch freiräumte, ist es dem Spiegel bis heute keine Zeile wert. Ich habe Benjamin Carter Hett nach den Gründen gefragt", leitet Michal ein.
Was Hett dann auf diese Frage antwortet, ist nicht enorm viel:
"... der Spiegel will dieses unrühmliche Kapitel seiner Geschichte lieber totschweigen. Auch über mein Buch wollen sie nichts schreiben, noch nicht einmal etwas Negatives."
Was den Spiegel der Gegenwart betrifft, der ja auch in der Echtzeit der Medien eine große Rolle spielt und sich sie weiterhin zu spielen bemüht (AP gestern), kommt die Frage auf, ob zumindest seine Reichstagsbrand-Artikelserie der späten 1950er Jahre für Medien-Verhaltnisse nicht lange genug zurückliegt, um sie einfach noch mal von allen Interessierten neu aufrollen zu lassen.
Dass es nichts schadet, sondern der Marke nützt, die eigene Vergangenheit spätestens dann, ähm, aufzuarbeiten, wenn persönlich Verantwortliche kaum mehr zu finden sind, hat zum Beispiel Deutschland ja bewiesen. Und Menschen, die den Spiegel für unfehlbar halten, wie es sie im 20. Jahrhundert womöglich in nennenswerter Anzahl gab, dürften inzwischen eine verschwindende Minderheit darstellen.
+++ Auch alles andere als unkompliziert: die Debatte über die Zukunft des Radios, die in den letzten Monaten in langen Textbeiträgen interessierter Beteiligter vor allem in der FAZ, bei epd medien und in der Medienkorrespondenz (dort frisch frei online: der Artikel des ehemaligen rheinland-pfälzischen Medienwächters Helmut G. Bauer) geführt wird. Die einen wollen wie schon seit Jahren bis Jahrzehnten weiter den neuen Digitalstandard DAB+ statt der analogen UKW einführen, die anderen wollen UKW behalten, die Dritten glauben, dass Radio künftig einfach übers Internet verbreitet werden wird. Alle argumentieren gerne damit, dass die jeweils anderen Übertragungswege deutlich teurer würden als der, den sie bevorzugen. Dazu äußert sich in der neuen epd medien-Ausgabe im großen, siebeneinhalb DIN A 4-Seiten langen Interview auch Deutschlandradio-Intendant Willi Steul, ein DAB+-Freund: "Das heißt, 2025 sollte UKW Ihrer Meinung nach abgestellt werden?" - Steul: "Diese Meinung kommt nicht aus dem hohlen Bauch, sondern aus der Beobachtung: Dort, wo es ein klares Signal gibt, dass DABplus der Verbreitungsweg der Zukunft ist, dauert es mindestens zehn Jahre, bis sich die Geräte im Markt durchgesetzt haben und man den nächsten Schritt gehen kann. Und um Bewegung in die Debatte zu bringen und Aufmerksamkeit zu erzielen, habe ich gesagt, 2025 müsse man abschalten. Ob man nun 2028 umsteigt oder 2030, das ist egal, aber die Politik muss ein Bekenntnis dazu abgeben, dass DABplus der relevante digitale Ausstrahlungsweg ist." - Warum ist es so schwierig, dieses Bekenntnis von der Politik zu kriegen? - Steul: "Weil in der Politik genauso wie bei den Journalisten das Internet eine geradezu mythische Gestalt angenommen hat, nach der Auffassung, es werde schon alles richten. ..." +++
+++ Voll im Trend: der WDR-Rundfunkrat. "Zusammengerechnet liegen nun fast 170 Bewerbungen für die neun Extra-Sitze im WDR-Rundfunkrat vor", weiß medienkorrespondenz.de. +++
+++ Gutes Beispiel für enorme Komplexität, die auch reine Nischen-Themen entfalten können: die VG Wort, was der Bundesgerichtshof über sie entschied und vermutlich das Verfassungsgericht über dessen Urteil entscheiden wird. Heiko Werning zitiert in der TAZ erst mal Marcus Hammerschmitt aus konkret: "Um diesen Stuss unter die Leute zu bringen, benutzt man vorzugsweise die komplett Ahnungslosen und die bis zur Besinnungslosigkeit Überangepassten unter den Autoren selbst", um dann jedoch das, äh, Argument "komplette Ahnungsloskeit" umzukehren und gegen Hammerschmitts Position zu wenden. +++ Dem von Verlegerseite angekündigten und durchgezogenen Kollateralschaden des BGH-Urteils, dem "Todesurteil für die Akademie" ABZV des Verlegerverbands BDZV, widmet sich kress.de. +++ [Nachtrag um 11.30 Uhr: Und Martin Vogel persönlich hat auch einen Longread verfasst, siehe perlentaucher.de]. +++
+++ "Sure, people like online video, but that doesn’t mean they want to watch your hard news videos": Da verunsichert eine aktuell häufig zitierte Studie des Oxforder Reuters Institute Portalbetreiber, die lieber auf Onlinevideos als Texte setzen (niemanlab.org). +++
+++ "Johanna Adorján, Redakteurin der 'Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung' in Berlin, hat von FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube die Anweisung erhalten, zum 1. August nach Frankfurt zu kommen. Dort soll sie künftig Redaktionsdienste schieben", weiß indes Ulrike Simon in ihrer RND-(Madsack-)Medienkolumne und zitiert anschließend anonyme Kritik am fürs Feuilleton zuständigen FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube. "Wie sexistisch ist die FAS?", spitzt der begnadete Zuspitzer Thommy Knüwer zu. +++
+++ Auf der FAZ-Medienseite geht es gleich neben Stefan Austs 70. um den gleichen Geburtstag der Jüdischen Allgemeine ("Als sie 1946 gegründet wurde, hätte keiner gedacht, dass es die Zeitung so lange geben würde"). Sie "lebt das Paradox, eine Zeitung von kleiner Auflage mit großem Gewicht zu sein", zitiert Ursula Scheer den JA-Chefredakteur Detlef David Kauschke. Siehe auch AP gestern. +++ Und Michael Hanfeld variiert mit neuen. alten Sprachbildern noch mal die Mehmet-Scholl-Honorare-Debatte ("Es ist schon klar, dass die Sender die wahren Honorare ihrer bestbezahlten freien Mitarbeiter nicht nennen können, allein aus Vertragsgründen. Das Problem ist nur: Man traut ihnen jedes Höchstgebot zu, weil sie von jeher mit dem Speck nach der Schwarte werfen"). +++
+++ Auf der SZ-Medienseite packt Karoline Meta Beisel eine neue "Dr. Sommer"-Sonderausgabe der alten Bauer-Verlags-Zeitschrift Bravo ("Das Kalkül des Verlags scheint ziemlich eindeutig zu sein: Die Eltern sollen den Teenies diese neue Version der Bravo hinlegen - also ausgerechnet diejenigen, vor denen man die Hefte früher versteckt hätte. Aber eben auch genau jene, die noch Gedrucktes kaufen") und die neue Staffel der inzwischen im ZDF laufenden Doku-Reihe "Make Love" in einen Artikel. +++
+++ Und wo die oben genannten Stefan Aust, Spiegel, Reichstagsbrand und René Martens wieder zusammenkommen: in der Stuttgarter Zeitung (Artikel des letzteren über ersteren). +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.