Nietzsche schrieb keine Buchkritiken

Nietzsche schrieb keine Buchkritiken

Leben Menschen, die den Begriff „Blogpost“ benutzen, in einer „Oberblase“? Außerdem: Die New York Times stoppt den Druck ihrer Titelseite für den Nachruf auf einen einflussreichen Journalisten.

Ob man eine Äußerung freudig oder besorgt interpretiert, kann manchmal durchaus von der Tagesform abhängen. Das gilt zum Beispiel für Sätze, die Mark Greif formuliert hat, Mitgründer und Redakteur des US-Kulturmagazins n+1 und Macher der Occupy Gazette. Die Spex beschäftigt sich in ihrer Januar/Februar-Ausgabe auf siebeneinhalb Seiten mit Greif und zitiert dabei unter anderem aus dem Vorwort der kürzlich auch in der taz rezensierten Essaysammlung „Bluescreen“:

„Wenn man allein die großen, klassischen Wendepunkte von Lebenserzählungen betrachtet (Kriege, Hochzeiten, schwerwiegende, unumkehrbare Entscheidungen), so sind unsere Leben heute ärmer an Ereignissen als jemals zuvor. Allerdings werden sie von ihrem Anfang bis an ihr Ende von einem Gefühl der Ereignishaftigkeit durchzogen.“

Und weil, so Spex-Autor Oskar Piegsa, „dieses Gefühl der Ereignishaftigkeit mitsamt unseren Erwartungshaltungen und Erregungszyklen von Medien strukturiert wird“, müsse, und jetzt kommt wieder Greif, „all das, was folgt, Schreiben über Medien sein.“

Wenn Greif Recht hat, ist das gut für Medienkolumnisten, weil sie nahezu jedes Thema abhandeln können - oder vielleicht auch schlecht, weil es immer schwerer wird zu definieren, was eigentlich ein Medienthema ist, beziehungsweise das „Entgrenzungsproblem“ des Medienjournalismus (Steffen Grimberg neulich, siehe Altpapier) in den Griff zu bekommen.

Anlass des Berichterstattung in Spex ist, „dass bei Suhrkamp innerhalb kürzester Zeit drei Bücher erscheinen, an denen Greif maßgeblich beteiligt ist“. In Piegsas Interview mit Greif geht es auch um ein paar klassische, praktische Fragen des Medienmachens. Die Gründung des Magazins, erzählt Greif, sei auch darauf zurückzuführen, dass man 2003 in den USA „immer wenn man einen interessanten Gedanken hatte, so tun (musste), als wäre er von einem neuen Buch, einer Platte oder einem Hollywoodfilm inspiriert worden, weil die Magazine nur Rezensionen druckten“. In diesem Zusammenhang merkt Greif an, Nietzsche habe ja schließlich auch keine Buchkritiken geschrieben.

Interessant auch, was Greif zu der Frage sagen hat, warum n+1 eigentlich so bleiwüstenmäßig anmutet:

„Generationen von Layoutern haben versucht, Zeitschriften zu erfinden, die mit dem Fernsehen konkurrieren können. As ich aufwuchs, gab es Hefte wie das Musikmagazin Ray Gun, die grafisch total überladen waren. Die Hefte der Achtziger und Neunziger erinnerten oft an archaische Videokunst: Beim Blättern begannen sie zu flimmern, weil jede Seite einen andere Hintergrund- oder Schriftfarbe hatte ... Uns ging es bei n+1 darum, die Gestaltung so leserlich wie möglich zu halten - alles Weitere passiert im Kopf.“

+++ Ray Gun war eine Zeitlang ja nun wirklich der ganz heiße Scheiß (hier einige Titelseiten), und damals hätte man nicht unbedingt damit gerechnet, dass in den Zehnerjahren jemand, der dann gerade als einer der Intellektuellen der Stunde gilt, die Bleiwüste preisen würde. Was wird man, fragen wir uns da, wohl in 15, 20 Jahren eigentlich über Blogs sagen? Womit wir bei einer Frage wären, über die gerade in den deutschen Sektoren Digitaliens geredet wird. „Tschuldigung, was ist ein Blogpost?“ lautet sie. Diskutiert wird selbstverständlich nicht der Inhalt, sondern, wie die Frage gemeint war. Der Satz fiel am Mittwoch, als Harald Schmidt in seiner Sendung mit Charlotte Roche und Marina Weisband zusammensaß, der politischen Geschäftsführerin der Piraten, die kürzlich auch als bloggende Medienkritikerin in Erscheinung trat (siehe Altpapier). Wenn Schmidt dies gefragt hätte, wäre das vielleicht als lustig durchgegangen. Tatsächlich stellte Roche die Frage in Richtung Weisband. War das nun kokett oder ironisch gemeint, wie es nahe liegt bei einer Person, der in ihrem bisherigen medialen Leben durch nicht wenige ironische und kokette Äußerungen aufgefallen ist? Oder ist die Frage Ausdruck tatsächlichen Nichtwissens? In dieser Debatte bei Dirk Baranek/Google+ meldet sich mit Nils „Nilz“ Bokelberg auch ein ehemaliger Moderatoren-Kollege Roches aus Viva-Zeiten zu Wort:

„Für ‚Koketterie‘ war es (...) zu wenig gespielt. Und am wichtigsten ist: Ich kenne das aus meinem Alltag. Da hab ich auch viel mit Medienmenschen zu tun. Und auch mit Nicht-Medien-Menschen. (...) Ich muss seit ca. einem halben Jahr nicht mehr jedesmal ‚Blog‘ erklären, was echt ein Fortschritt ist, aber Begriffe wie ‚Blogpost‘, da kann einfach keine Sau was mit anfangen und ich versteh das ja auch irgendwie. Wenn man aber von ‚Artikeln‘ spricht, leuchtet das jedem sofort ein.“

Dies, so Bokelberg, sollten sich jene, die in der „Oberblase“ leben und zum Beispiel bei Google+ unterwegs sind, mal vergegenwärtigen.

[listbox:title=Artikel des Tages[Hans-Olaf Henkel: weder Mensch noch Tier noch Requisite (Funkkorrespondenz)##Ein großer Sportjournalist geht in der Ruhestand (Freitag)##Ein sehr persönlicher Nachruf auf Christopher Hitchens (The New Yorker)]]

+++ Neben der „Sarah Wagenknecht von morgen“ (Schmidt über Weisband) hat die Piratenpartei - die im übrigen „ganz merkwürdig altfeministisch drauf“ ist, wie einer ihrer Sponsoren aus dem Reality-TV-Milieu findet - noch eine weitere weibliche Spitzenkraft zu bieten, nämlich die Berliner Fraktionsgeschäftsführerin Daniela Scherler. Dass die nicht mehr alle Nadeln am Tannenbaum hat (um es noch relativ nett zu formulieren), beschreiben ausführlich Florian Freistetter bei ScienceBlogs und Jörg Ewers (Google+). Scherler verfasst Bücher zu medizinischen Themen und vertritt dort laut Freistetter unter anderem Folgendes:

„Wer Krebs oder AIDS hat, war einfach geistig nicht gut genug drauf. Krankheiten sind ihrer Meinung nach die ‚Quittung für (falsches) Projektionsverhalten‘. Wer unter AIDS oder Krebs leidet, muss nur die ‚Urprinzipien Pluto und Neptun‘ integrieren (oder Jupiter bei Krebs) und alles wird gut.“

Apropos Knalltüten: Ken Jebsen ist weiterhin ein Thema, jedenfalls für den Tagesspiegel, der uns darüber aufklärt, dass nicht der RBB, sondern Kamerad Ken die Rechte an der Marke „KenFM“ hat. Somit ist es nicht verwunderlich, dass der Bursche „angekündigt“ hat, „irgendwie im Internet weiterzumachen“. Dass hier auf jüngst von Jebsen Produziertes verlinkt wird, erwartet hoffentlich niemand.


Altpapierkorb

+++ Der - sehr verkürzt gesagt - streitbare US-Autor und Vanity-Fair-Kolumnist Christopher Hitchens ist im Alter von 62 Jahren gestorben. Die Washington Post bezeichnet ihn einem Nachruf als „religious skeptic“ und „master of the contrarian essay“. Ein sehr persönlicher Text von Christopher Buckley findet sich im Blog von The New Yorker. Die New York Times stoppte die Druckmaschinen, um auf der ersten Seite einen Nachruf unterzubringen. „If that isn't a testament to his work, I don't know what is“, schreibt Nicholas Jackson (The Atlantic). (Update, 10 Uhr: In seinem letzten Text schrieb Hitchens über Nietzsche).

+++ Welche Medien in der Story um Christian Wulffs Hütte und diesen vermaledeiten Kredit wann was recherchiert haben (siehe auch Altpapier vom Donnerstag), hat heute noch einmal Jens Schneider für den Politikteil der SZ zusammen getragen. Woraus sich dann durchaus diese Frage ableiten lässt.

+++ „Ich glaube einfach nicht, dass Hans-Olaf Henkel ein Mensch ist“, lautet der erste Satz Torsten Körners in einer Funkkorrespondenz-Glosse über die Spezie Talkshowgast. Ein Tier, ein Requisit sei er aber auch nicht. „Meistens sind es übrigens Männer, die keine Menschen sind. Doch auch Frauen sind manchmal keine Menschen, Tiere oder Requisiten. Iris Berben zum Beispiel ist ganz sicher kein Mensch, aber eben auch kein Mann.“ Gestern bei „Beckmann“ hockte übrigens unter anderem Hugo Müller-Vogg, der in Körners Text nicht vorkommt, aber dort gut gepasst hätte. Frank Lübberding erlebte „die Souveranitätserklärung der Medien gegenüber der Politik. Das kommt bekanntlich nicht jeden Tag vor“ (faz.net-Frühkritik).

+++ Neues von der Transparenz-Front: Pro Publica ermöglicht den Lesern künftig einen Überblick über sämtliche Quellen eines Artikels.

 +++ Dass Transparenz oft nicht das ist, als was sie verkauft wird, beschreibt Altpapier-Autor Klaus Raab im Freitag anhand eines Blicks auf die Twitter-Aktivitäten von Politikern: „Als die SPD über die Vorratsdatenspeicherung stritt, stritten sich auf Twitter auch einzelne Abgeordnete. (...) Standard ist das allerdings nicht: Viele Politiker nutzen Twitter, um belanglose Details über Wochenend-Fernsehgewohnheiten loszuwerden. Von persönlichen Positionen, die nicht exakt auf Parteilinie liegen, erfährt die Welt in vielen Politiker-Timelines gar nichts, von politischen Entscheidungsprozessen nur das Ergebnis: die Parteilinie. Was dann großspurig Transparenz genannt wird, ist nichts anderes als transparent gefärbte Partei-PR (...) Intransparenz ist dann doch transparenter. Sie ist wenigstens nicht verlogen.“

+++ Ebenfalls im Freitag, ebenfalls von einem Altpapier-Autor: Matthias Dell würdigt den Sportjournalisten Herbert Fischer-Solms, der Ende des Monats nach 39 Jahren als Deutschlandfunk-Redakteur in den Ruhestand geht, sowie die Arbeit der gesamten DLF- Sportredaktion. Sie begreife „ihre Arbeit als eine Plattform, die beharrlichen Kritikern eine Stimme verleiht. Schon, weil zum Sport mehr als Fußball gehört, aber auch, weil der Sport mehr als Unterhaltung bietet. Die Sendungen am Wochenende sowie die Sportgespräche zeigen in hoher journalistischer Qualität auf, dass an einem derart komplexen System wie dem Sport auch Geschichte, Politik und Ökonomie interessieren müssen.“

+++ In Washington beginnt heute der Prozess gegen den mutmaßlichen Wikileaks-Informanten Bradley Manning, der seit 17 Monaten in Haft sitzt. Die taz und derwesten.de informieren.

+++ Alles über den „Machtwechsel“ im WAZ-Konzern, der heute bei einem „Sondertreffen eingefädelt wird“, weiß Klaus Boldt (manager-magazin.de). Die SZ hat mit dem Testamentsvollstrecker einer der Eigentümerfamilien gesprochen, der sich „sibyllinisch“ äußerte (S. 17). Näheres zur „dynastischen Performance der WAZ-Gruppe“ steht in diesem Altpapier.

+++ „Die russischen Massendemonstrationen gegen die dreist gefälschten Duma-Wahlen waren zu groß, als dass die staatlichen Fernsehanstalten sie noch zu ignorieren wagten. Das galt zumindest am vergangenen Wochenende. Inzwischen spielen die Staatsmedien den Aufruhr herunter.“ Das berichtet die FAZ auf ihrer Medienseite.

+++ Außerdem in der FAZ: ein Lob für die Doku „Nackte Männer, nackte Wahrheiten“ (ein Film für Saunagänger, den arte zur richtigen Jahreszeit ins Programm genommen hat) sowie - im Feuilleton - eines für die jüdische Vierteljahreszeitschrift Tribüne, die nunmehr „ihren fünfzigsten Jahrgang feiert“.

+++ Die Druckausgabe des traditionsreichen France Soir wird eingestellt, nachdem ein Konflikt zwischen dem Eigentümer und Gewerkschaftern eskaliert war (SZ; Hintergründe in diesem Altpapierkorb).

+++ Aufmacher der SZ-Medienseite ist ein Text über Gruner + Jahr und den dort 2012 geplanten „strukturellen Umbau“. Außerdem wirft Katharina Riehl einen Blick auf das fürs neue Jahr geplante „hochwertige Frauenmagazin“ Seasons (Arbeitstitel): „Man muss kein berufsmäßiger Print-Optimist sein, um festzustellen, dass der Verlag sich damit etwas mehr traut als zuletzt.“

+++ Noch ein Vorausblick aufs kommende Jahr: Mercedes Bunz schreibt in ihrem Blog, 2012 werde „das Jahr des Fernsehens“, und zwar unter anderem wegen „television-to-go“: „The iPad and the Kindle Fire tablet have become something like the walkman of television.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

 

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