Ein kathartischer Moment

Ein kathartischer Moment

Das Quotenrennen endet bei "Wetten, dass..?" mit einem Unfall, und die diskutierte Frage ist: Bewies das ZDF im Unglück Größe – oder war es nur Thomas Gottschalk?

Da begibt sich das ZDF in einer Sendung auf die Spuren junger Leute, lädt den berühmten Teenager Justin Bieber ein, hat für die 35-Jährigen die wiedervereinigte Boygroup Take That in der Sendung, nimmt mindestens eine spektakuläre Wette ins Programm - macht also alles so, wie RTL es auch täte. Es endet im Unglück, und dann erlebt das öffentlich-rechtliche Fernsehen einen kathartischen Moment.

Die "Wetten, dass..?"-Sendung vom Samstag, in der sich vor laufenden Kameras ein Wettkandidat schwer verletzte, was zum Abbruch der Sendung führte (ZDF-Mediathek, Erzählungen des Hergangs am Samstagabend, etwa bei Spiegel Online oder Focus Online), ist heute das Hauptthema der Medienseiten bzw. der von Medienseitenredakteuren bestückten Seiten.

(Foto: Gottschalk diskutiert u.a. m. Regisseur F. Hof, M.)

Nach und neben Infografiken, Zusammenfassungen und Bildergalerien begannen die Medien am Sonntag, das Geschehene vom Einzelfall zu lösen und einzuordnen: in die Technik- und Fernsehgeschichte sowie in die Debatte über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Da wäre etwa Kai Müller für den Tagesspiegel, der Technikskepsis zum Ausdruck bringt angesichts der Tatsache, dass der verunglückte Wettkandidat nicht mit bloßer Muskelkraft, sondern mit Sprungfederschuhen über auf ihn zufahrende Autos springen wollte:

"Wie trügerisch, aber auch zeitgemäß dieses Vertrauen in die Technik ist, davon erzählen die Toten am höchsten Berg der Erde ebenso wie der Unfall bei 'Wetten dass...?'. Hätte Samuel Koch seinen Autosprung auch ohne die 'Poweriser' gewagt, die als futuristische Sprungfedern um seine Beine geschnallt waren? Sie erst gaben ihm die Kraft, es überhaupt in Erwägung zu ziehen. Und sie waren wohl auch zu cool, als dass nicht auch das ZDF ihrem Reiz erlag."

Die vor allem diskutierte Frage aber lautet: Was war das für ein Reiz, wenn kein Quotenreiz?

Kurt Beck (SPD), der ZDF-Verwaltungsratschef und rheinland-pfälzische Ministerpräsident, soll sie im Munde führen, berichtet das Hamburger Abendblatt, das mit keiner Einschätzung auch den Experten Jo Groebel zitiert.

Auch Kai Müller stellt die Frage nach der Konkurrenz noch: "'Wetten dass...?' droht gegenüber privaten TV-Formaten wie 'Schlag den Raab', die auf deutlich höheres Risiko setzen, zu verlieren. Da liegt es nahe, Extremsportarten in die Sendung zu holen, bei denen die Akteure ihre Knochenbrüche oft wie Trophäen feiern."

Ulf Poschardt beschuldigt bei Welt Online das ZDF, die Sorgfaltspflicht verletzt zu haben - wegen der Rücksicht auf die Marktanteile:

"Im Wettbewerb um Marktanteile im Rundfunk haben ARD und ZDF dank ihrer beiden Einnahmequellen, Gebühren plus Werbung, ungeheuere Vorteile. Dies verpflichtet zu besonderer Verantwortung. Es wäre tragisch, wenn ausgerechnet das Schicksal eines 23-jährigen, mutigen Mannes fortan daran erinnern sollte, welche bitterernste Folgen eine Verletzung dieser Sorgfaltspflicht haben kann."

"Nur kurz nach dem TV-Desaster ist die Debatte darum entbrannt, ob Quotenwahn und steigender Konkurrenzdruck zu dem Unfall geführt haben", schreibt etwa Spiegel Online, vernachlässigend, dass man sie ja selbst mit entfacht hat. Die Süddeutsche Zeitung benutzt die Formulierung: "Dem ZDF wird vorgeworfen, unter dem Konkurrenzdruck von RTL mehr Risiko bei den Wetten einzugehen. Stimmt das?" Christopher Keil stellte diese Frage Thomas Gottschalk, und der antwortet:

"Den Vorwurf, wir hätten unter Konkurrenzdruck eine unverantwortliche Wette ins Programm genommen, möchte und muss ich zurückweisen. Wir hatten immer schon riskante Wetten, ob mit Motorrädern oder auf Skisprungschanzen."

Was, genau gelesen, nicht bedeutet, dass er seine Sendung nicht unter Konkurrenzdruck sieht.

Auch Michael Hanfeld sprach mit Gottschalk, für die Frankfurter Allgemeine (S. 9), er verarbeitet das Material allerdings (anders als für FAZ.net) nicht zum Wortlautinterview, sondern zum Fließtext:

"Auf die Frage, ob im Wettstreit der Fernsehsender um die Zuschauergunst die Risiken solcher Wettspiele größer würden (antwortete Gottschalk; AP): 'Dem widerspreche ich ganz vehement. Die Wetten waren so, wie sie das Publikum bei mir seit vielen Jahren kennt.'"

Im Feuilleton der FAZ allerdings rückt Hanfeld vom Quoten-Framing etwas ab und lobt Gottschalk nicht nur für seine Konsequenz, die Sendung abzubrechen, sondern schreibt auch:

"Wem bei dem Unfall nun der Kampf um Quoten einfällt und die besonders harte Konkurrenz zwischen 'Wetten, dass ..?' im ZDF und dem 'Supertalent' bei RTL, der verfällt auf das Naheliegende, urteilt aber wohlfeil."

Joachim Huber nutzt im Tagesspiegel im vorderen Blattteil nicht den ansonsten gern genutzten Journalistenkniff, die eigene Kritik einfach als Kritik anderer zu zitieren. Er entbindet angenehmerweise Medien und Fernsehkritiker nicht von ihrer Teilhabe am Fernsehdiskurs, wenn er schreibt:

"Seit längerem schon lautet ein Vorwurf, den man an 'Wetten, dass...?' macht: Die Wetten seien langweilig, unspektakulär, zu einfach, zu dumm. Sie würden keine Rolle mehr spielen, nicht mehr im Mittelpunkt stehen in einer Show, in der die Prominenten nur noch ihre Dutzendware aus Film, Fernsehen und Popmusik vermarkten wollen. Und es kann sein, dass da Druck war, den die Verantwortlichen spürten. Der Druck, mithalten zu wollen gegen vermeintlich spektakuläre neue Showformate der privaten Konkurrenz. Es sieht so aus, als habe das ZDF im Quotenkampf bei den Wetten an der Schraube gedreht – spektakulärer, circensischer, vom Kitzel hochgezogen zum Nervenkitzel."

Taz.de erinnert in einem zusammenfassenden Text zum Vergleich auch etwa an die ZDF-"Samstagabend-Show 'Wünsch dir was' mit Dietmar Schönherr" vor 40 Jahren. Steffen Grimberg für die taz:

"In einer Sendung sollte sich eine Kandidaten-Familie aus einem Auto befreien, dass vor laufenden Kameras in einem Wasserbecken versenkt wurde. Doch eine Tür klemmte, und die Kandidatin konnte erst in letzter Sekunde von Rettungstauchern gerettet werden. Die Sendung ging damals übrigens einfach weiter."

Der entscheidende Punkt in der Rezeption des Unfalls muss wohl genau hier liegen: dass Thomas Gottschalk, dem allerorts attestiert wird, richtig gehandelt zu haben, und das ZDF die Sendung abbrachen.

"Bei RTL würde man einfach den Unfall wiederholen, bis es weitergeht... #wettendass", twitterte noch am Samstagabend ein User. Möglicherweise tut man RTL mit dieser These Unrecht. Möglicherweise aber auch nicht, wie zumindest der Vergleich mit ProSieben zeigt, den Hans Hoff in der Süddeutschen (S. 15) zieht:

"Im Frühjahr fiel Stefan Raab in seiner Pro-Sieben-Show von einem Mountainbike, das danach auf sein Gesicht prallte. 'Hoffentlich ist ihm nichts passiert', sagte der Kommentator, während die Kamera weiter auf den regungslosen Showmaster hielt. Es dauerte eine ganze Weile, bis deutlich wurde, dass Raab zwar verletzt war, aber trotzdem weitermachen wollte und konnte. Im Vergleich belegt so eine Szene den immer noch vorhandenen Unterschied zwischen privatem und öffentlich-rechtlichem Fernsehen. Beim ZDF wird eben nicht draufgehalten. Vielmehr nimmt der Regisseur der Show, Frank Hof, das Unfallopfer in Rekordzeit aus dem Bild."

Das Rennen um die jungen Zuschauer an einem Samstagabend, an dem RTL parallel "Das Supertalent" programmiert hatte, endete im ZDF mit einem Moment der Einsicht und des Besinnens. 8,13 Millionen Menschen, die bis zum Abbruch "Wetten, dass..?" verfolgt hatten, erlebten einen kathartischen Moment.

[listbox:title=Artikel des Tages[Gottschalk-Interview (SZ)##Fragen und Antworten (TSP)##Wohlfeile Debatte! (FAZ)##ZDF vernachlässigt Sorgfaltspflicht (Welt.de)]]


Altpapierkorb

+++ "Anders als RTL allerdings kann die öffentlich-rechtliche ARD die selbstverschuldete Monokultur nicht mit Renditedruck begründen. Ihr Problem ist hausgemacht und hat mit der Strategie des faulen Kompromisses zu tun, der oft genug die internen Probleme nicht lösen kann, sie aber, so gut es geht, überdecken soll." Anderes Thema, aber nur teilweise: die Talkshowfrage der ARD. Die Funkkorrespondenz stellt sie im Leitartikel +++ Die ARD-Talkshowschiene ist auch Thema im Spiegel, auch online +++

+++ Mehr Talk: im Interview, bei der FAS: Parteienforscher Jürgen Falter, es geht um Talkshows und seine Karriere als Experte +++ Die FAZ hat zudem ein Interview (S. 9) mit einem zunächst extrem maulfaulen Teenie-Star Justin Bieber im Blatt, der bei "Wetten, dass..?" auftreten sollte und der im Lauf des Interviews erst auftaut, als er von sich aus beginnt, PR für irgendwelche neuen Justin-Bieber-Produkte zu machen - deren Existenz auch wir gerne erwähnen, nachdem er bei "Wetten, dass..?" nun keine Gelegenheit dazu bekam +++

+++ Und noch eine bisweilen auch bunte Geschichte: Konstantin Neven DuMont, der ansonsten heute keine Aufmerksamkeit bekommt, antwortet den DuMont-Chefredakteuren (kress.de), die ihn kritisiert hatten +++

+++ "Eschede des deutschen Fernsehens", so so: Die Frage, wie es mit "Wetten, dass..?" nun weitergeht, wird vom Hamburger Abendblatt gestellt, aber mangels Beantwortbarkeit nicht beantwortet: "Die Krise kann nun so groß werden, dass „Wetten Dass?“ ganz kippt und das ZDF auf Jahre hinaus einen schweren Imageschaden davonträgt. Es war ein Unglück mit dem Potenzial zum Eschede des deutschen Fernsehens zu werden" +++

+++ Die Wikileaks bestimmen auch weiterhin die Agenda mit. Die FAZ porträtiert Daniel Domscheidt-Berg, den ausgestiegenen Sprecher der Organisation. Der sagt: "Im Rückblick kritisiert Domscheit-Berg, dass es mit der kleinen Anzahl an festen und freien Aktivisten bei Wikileaks gar nicht möglich gewesen wäre, die riesige Menge an Daten gewissenhaft zu überprüfen: 'Assange (Wikileaks-Chef Julian; AP) hat immer nur der nächsten Veröffentlichung entgegen gefiebert. Gleichzeitig haben wir es völlig versäumt, entsprechende Strukturen aufzubauen, die dem kommenden Massenansturm auf Wikileaks gerecht werden konnten.'" +++ Die FAS derweil kümmert sich um Julian Assange selbst - als Mann, der keine Geheimnisse ertrage und dabei "sich selbst als das größte Mysterium" inszeniere +++ Nachdem PayPal Wikileaks den "Geldhahn zudrehte" (FTD) erinnert Wolf Schmidt im taz-Kommentar nach der Kritik der vergangenen Tage noch einmal an die Vorzüge, die Wikileaks hat und schreibt: Journalisten sollten "die Versuche, Wikileaks aus dem Netz zu drängen und die Geldzuflüsse an die Geheimnisenthüllungsplattform abzuschneiden, scharf verurteilen" +++

+++ Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag und die Frage: klagen? (Carta) +++ Selbiges und die Frage: Für welche Zeitzone gilt eigentlich die Idee, jugendgefährdende Inhalte erst ab 22 Uhr online zu stellen? (FAS, danke dafür) +++

+++ Fernsehen: der Krimi mit Heiner Lauterbach, "Mörderischer Besuch", im ZDF (20.15 Uhr), besprochen vom Tagesspiegel und von der FAZ (S. 31) +++ Interview mit Lauterbach im Kölner Stadt-Anzeiger +++ Oliver Hirschbiegel verfilmt die Geschichte eines Clans (TSP) +++ Der KSTA über "Wo ist meine Stimme?" aus der "Die Story"-Reihe +++ Noch ne ZDF-Meldung mit Kurt Beck: Man testete Dominosteine für "WISO" - Stefan Niggemeier hat in der Jury eine kleine Überraschung entdeckt +++ Die taz interviewt Benjamin Benedict, Produzent von "Die Säulen der Erde" (letzter Teil am heutigen Montag) +++

+++ Und noch einige Samstagabend-Tweets mit dem Hashtag #wettendass:
"Herr Gottschalk, ich ziehe den Hut! #wettendass"
"Jetzt loben alle #WettenDass für den Abbruch. Wäre wohl einiges besser gewesen die Wette im Voraus zu überdenken..."
"Ganz ehrlich, ich finde es unverantwortlich von ZDF, dass die so eine gefährliche Wette überhaupt zugelassen haben. #WettenDass"
"Wie schnell der clip von wettendass bei youtube ist. schnelle welt"
"Videos vom Unfall auf YouTube als unangemessen melden: Jetzt #wettendass #zdf" +++


Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstagmorgen.
 

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